Weibliche Teens proben den Aufstand: In „17 Mädchen“ erkämpft sich ein Freundinnenkreis die Freiheit mit Babybäuchen. Von VINA YUN
Einst war Lorient – damals noch L’Orient – Heimathafen der französischen Ostindien-Kompanie und zentraler Umschlagplatz für den kolonialen Orienthandel. Heute lebt die bretonische Arbeiterstadt, die im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde, vorwiegend von der Fischerei und bietet einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck: Fischkonservenfabriken, ein paar Hochhäuser, Beton-Tristesse. Eingebettet in dieses matte industrielle Ambiente ist die Geschichte von „17 Mädchen“ von Delphine und Muriel Coulin, die für ihren ersten Langspielfilm in ihre alte Heimatstadt zurückkehrten.
„17 Mädchen“ handelt von einer Gruppe weiblicher Teenager, die einen außergewöhnlichen Pakt schließt: Angeführt von der aufmüpfigen Camille, die unfreiwillig ein Baby erwartet, lassen sich die Freundinnen der Reihe nach schwängern. Sie träumen von einem gemeinsamen Leben in einer Mutter-Kind-Kommune, in der sich alle gegenseitig umsorgen und stützen: Ein Gegenentwurf zur jetzigen Lebenssituation, in der ignorante erwachsene Autoritäten das Sagen haben. Und auch wenn eine mal kurzfristig vor Eifersucht platzt: Jungs spielen keine allzu große Rolle im Leben von Camille & Co. – mal abgesehen von ihrer Funktion als Samenspender.
Mädchenrevolte. Dass gerade mit der Geburt eines Kindes ein selbstbestimmtes Leben möglich scheint, klingt zunächst absurd, kommt jedoch nicht von ungefähr: Lorient „bietet Jugendlichen wenig Perspektiven“, konstatieren die Coulins. „Die Erwachsenen, die Lehrer, die gesamte Gesellschaft schaffen es nicht, diesen Mädchen andere Möglichkeiten aufzuzeigen, außerhalb dieses vorgezeichneten Lebens: etwas Schulbildung, eine Anstellung, Hochzeit und zwei Kinder – genau in dieser Reihenfolge“, resümiert das Regie-Duo in den Produktionsnotizen zum Film. „Aber das wollen sie auf den Kopf stellen: Sie wollen alles, und zwar sofort.“
Anstatt einen krawalligen Skandalfilm über Teenager-Schwangerschaften zu inszenieren, erzählen die Coulin-Schwestern die Story aus der Mädchen-Perspektive, in einem unaufgeregten, beinahe spielerischen Ton. Streckenweise war das Bemühen, jeglichen Pathos zu vermeiden, vielleicht etwas zu groß: Die individuellen Nöte der Mädchen werden bloß angestupst, die Dringlichkeit des jugendlichen Aufstandes en passant verhandelt. Rasante emotionale Achterbahnen hält aber ohnedies die Realität bereit – denn der Film basiert auf einer wahren Begebenheit. 2008 wurden im US-Bundesstaat Massachusetts 17 Mädchen an einer Highschool schwanger, Medien berichteten nervös über einen angeblichen „Pregnancy Pact“ unter den Schülerinnen.
Auch „17 Mädchen“ thematisiert die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und die Frage der Entscheidungsgewalt, sobald es um weibliche Sexualität geht. Dabei unterschätzen die Coulins ihre Protagonistinnen nicht: Die Mädchen sind clever genug, zu erkennen, dass sie über ihren Körper – als ihr primäres Kapital in dieser Gesellschaft – Revolten anzetteln können. Für die 16-jährige Camille und ihre Freundinnen bedeutet die Schwangerschaft nicht etwa Gefangenschaft, sondern das genaue Gegenteil: Befreiung. Von der Abhängigkeit von den Eltern, von der Zurechtweisung durch Lehrer_innen, von der artigen Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen und Normen.
Freundinnen für immer. So naiv die Protagonistinnen an die Mutterschaft herangehen, so fest lässt sie die Sehnsucht nach einem anderen Leben (symbolisiert durch den Blick auf das Meer und die Weite des Himmels) zusammenhalten. Gerade in der Enge der Kleinstadt wirken Bündnisse unter Gleichgesinnten lebenserhaltend. Zweifel und Ängste kommen dann auf, wenn die Teens für sich alleine sind – etwa in der Stille ihrer Zimmer, deren mädchenhafte Einrichtung immer wieder daran erinnert, dass die Charaktere selbst noch mit einem Fuß in der Pubertät stecken.
Die Verbundenheit zwischen den Protagonistinnen schlägt sich vor allem in der Farbkomposition und im Soundtrack nieder: Die eigensinnige Mädchenwelt erstrahlt in kontrastreichen, bunten Bildern, begleitet von rockig-elektronischen Klängen (u.a. von DJ Chloé, Tricky und Devendra Banhart).
Letztlich bleibt das erträumte Frauenkommunen-Leben Utopie. Dennoch hält in „17 Mädchen“ keine Verzweiflung Einzug: Camille, die ihr ungeborenes Kind verliert, verlässt den Freundinnenkreis, doch auch ohne die einstige Rädelsführerin bleibt das Band zwischen den Mädchen bestehen, verstärkt durch die gemeinsame Heerschar an Nachkommen.
17 Mädchen (F 2011), Regie: Delphine Coulin, Muriel Coulin. Mit Louise Grinberg, Juliette Darche, Roxane Duran, Esther Garrel u.a.
Derzeit zu sehen in den österreichischen und deutschen Kinos.