CÉLINE SCIAMMAS zweiter Spielfilm ist ein sommerleichtes Vergnügen über die schwierige Herausforderung, sich der eigenen Identität zu stellen. Umso schwieriger, wenn man erst zehn Jahre alt ist. MARIA POELL zählt „Tomboy“ schon jetzt zu ihren Für-Immer-Lieblingsfilmen.
Feingefühl hat Filmemacherin Céline Sciamma bereits mit ihrem Debüt „Naissance des pieuvres“ bewiesen, einem subtilen wie frechen Film über den Spielraum zwischen Pubertät und Erwachsenwerden, Freundschaft und (lesbischem) Begehren. Auch „Tomboy“ erzählt von Zwischenräumen: Laure ist zehn. Einen Sommer lang nennt sie sich Mikaël, spielt Fußball mit den anderen Jungs, bastelt sich einen Penis aus Plastilin und lernt Lisa kennen – die auf keinen Fall wissen darf, dass Mikaël zu Hause Laure heißt.
Mit Witz und unglaublicher Leichtigkeit entwickelt Sciamma ihre Geschichte, erfreulicherweise ganz ohne Psychologie. Ob Mikaël hier erstmals seine Transidentität behauptet, oder ob Laure einfach Lust am Spiel mit den Geschlechterrollen hat, lässt der Film offen. Wichtig ist nicht das Warum, sondern das Wie: Genau in dieser Offenheit wird die Figur lebendig.
Leidenschaftlich und frei. „Tomboy“ beginnt einfach und still, ein leises Rauschen nimmt das erste Bild vorweg: Laures Hinterkopf im Close-up, die kurz geschnittenen Haare zittern im Fahrtwind, die Sonne strahlt durchs Grün der vorbeifliegenden Bäume. Dieses erste Bild erzählt bereits davon, worum es hier gehen wird – um ein unbändiges Freiheitsgefühl. Um den Wunsch, die Utopie, die Schwierigkeit, aber auch die Möglichkeit(en), diese Freiheit zu leben. To be who you want to be – who you are.Immer wieder blitzt dieser leidenschaftliche Freiheitsdrang im Film auf. In Mikaëls sehnsüchtigem Blick auf die nackten Oberkörper der Jungs beim Fußballspiel, und seiner triumphierenden Freude, als er sich getraut hat, es ihnen gleich zu tun. In der verschworenen Zweisamkeit von Laure und ihrer kleinen Schwester Jeanne, die keine Erwachsenen braucht. Einer der vielen Geniestreiche des Films ist es, wie sehr sich Narration und Kamera auf Augenhöhe der Kinder begeben und die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen.
Im Viennale-Publikumsgespräch letztes Jahr verrät Céline Sciamma, dass sie in ihrer filmischen Arbeit „obsessed with identity“ sei und ganz bewusst jede Psychologie vermeiden wollte. Stattdessen rollt sie ihre Geschichte wie einen Krimi auf und spart dabei nicht mit Spannungsmomenten. Wir fiebern mit Laure/Mikaël mit, teilen sein/ihr Geheimnis und bangen jedes Mal, wenn die Wahrheit das heimliche Glück zu zerstören droht.
Ganz eindeutig ist der Film dabei auf Laures/Mikaëls Seite, nie wird sein Empfinden problematisiert, maximal ihre Unehrlichkeit. Die freundschaftlich-romantische Beziehung zu Lisa ist in ihrer unkomplizierten Leichtigkeit der bewegende Angelpunkt eines hochkomplexen Dilemmas – sein Anderssein ist es, was ihn für Lisa so interessant macht, und gleichzeitig schwebt genau dieses Anderssein wie eine düstere Gewitterwolke über ihrem Sommerglück.
Realität vs. Vorstellungskraft. Als sich die Gewitterwolke unweigerlich entlädt, fällt die Reaktion der sonst so liebevoll-aufgeschlossenen Mutter überraschend drastisch aus – vielleicht ein winziger Schönheitsfehler dieses kleinen Meisterwerks. Ich hätte mir gewünscht und ihr auch zugetraut, dass sie der Herausforderung mit mehr kreativem Einfallsreichtum begegnet, so wie die Kids im Film das immer wieder tun. Hier markiert der Film jedenfalls eine Grenze – die Erwachsenenwelt und damit die Realität da draußen, die auf uns alle wartet, ist vergleichsweise starr und unbeweglich. Wir müssen für unser Dazwischen kämpfen, für unser „outside the box“. Als Kind lebt es sich noch viel instinktiver zwischen den Schubladen.
Das beeindruckende Spiel der Kinder, allen voran Hauptdarstellerin Zoé Heran, füllt den Film mit pulsierendem Leben. Wie der Filmemacherin das gelungen ist, ist ein weiterer Geniestreich – indem sie zum Beispiel die Fußballjungs mit Zoés wirklichen Freunden besetzt hat und auch beim Regieführen auf Augenhöhe geblieben ist: „Basically, when they dance, I dance, when they sing, I sing, when they fall, I fall. And actually it’s a movie that is quite easy to explain to a kid. Because kids, they don’t ask why. They still have that power of being somebody else for an afternoon, like, I’m Robin Hood, or Batman.“
„Tomboy“ ist ein wunderbar stimmiger, mitreißender und unterhaltsamer Film für Superheld_innen aller Altersklassen.
„Tomboy“ (Frankreich 2011, 82 Min.), Regie: Céline Sciamma. Mit Zoé Héran, Malonn Lévanna, Jeanne Disson u.a. Derzeit in den österreichischen Kinos.
2 Kommentare zu „an.sehen: Ein Sommer lang Freiheit“
Eine etwas anders ausgefallene Filmkritik:
http://trans.blogsport.de/2012/05/10/kritik-zum-film-tomboy/
http://trans.blogsport.de/2012/05/11/kritik-zum-film-tomboy/
das müsste der funktionierende link sein (: