Mit Figuren wie Gretchen Sackmeier und der feuerroten Friederike zog feministischer Kampfgeist in die Kinderbücher ein. Ein Nachruf auf CHRISTINE NÖSTLINGER von VERENA FABRIS
„,Eine Wut, eine brandrote Wut krieg ich‘, rief die Mama, ‚wenn ich mir vorstelle, wie da etliche blöde Knaben wie die Kikeriki-Hähne zusammenstehen und über dich und deinen Busen herziehen!‘“ (Zitat aus „Gretchen Sackmeier“)
Gretchen, Rosa, Friederike oder Franz haben mich und viele meiner Freundinnen ermutigt, uns klug und stark zu fühlen. Sie trugen dazu bei, dass wir uns als etwas Besonderes empfinden durften, egal, ob wir rothaarig waren, ein dickes Mädchen oder ein Junge mit piepsiger Stimme, der für ein Mädchen gehalten wird. Sie bestärkten uns darin, uns gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. Ohne pädagogischen Zeigefinger, ohne moralischen Impetus. Christine Nöstlingers Figuren gaben uns das Gefühl, verstanden zu werden. Denn immer stellte sich die Autorin auf die Seite der Kinder und Ausgegrenzten.
Um Moral hat sich Nöstlinger nie geschert, weder im Privaten noch in ihren Büchern. Mit nüchterner Gelassenheit, sarkastischem Humor und einem schmucklosen Sinn für Gerechtigkeit hat sie Zeit ihres Lebens frei heraus Missstände benannt. Sie hat kein Blatt vor den Mund genommen und ließ sich nicht dreinreden, weder in ihre politischen Überzeugungen noch in ihren eigenwilligen Schreibstil, der vom Wienerischen geprägt war.
Nöstlinger sprach sich dagegen aus, Wörter, die heute dem Political-Correctness-Diskurs widersprechen, nachträglich aus Kinderbüchern zu entfernen. Eine Fußnote, die erkläre, warum dieses Wort benutzt wurde, würde Kinder viel mehr zum Nachdenken anregen. „Mit Kindern kann man nämlich sehr vernünftig reden“, argumentierte sie 2015 in „Die Zeit“.
Ein Binnen-I schreiben wollte sie auch nicht, weil sie mit „Reglementiererei“ nichts im Sinn hatte und weil sie nichts schreiben wollte, „was man nicht reden kann“, wie sie 2016 „News“ erzählte.
Als Feministin hat Nöstlinger sich dennoch verstanden. „Meine Ansichten sind sicher feministisch“, sagte sie 2015 in der Zeitschrift „Wienerin“. Trotzdem zögerte sie immer wieder, sich als eine solche zu bezeichnen. Denn sie sei nie in einer feministischen Bewegung aktiv gewesen und habe sich schwer getan mit der „lila Latzhosenfraktion“, weil diese „Männerhasserinnen waren“, während sie Männer immer geliebt habe. Ein Papakind sei sie gewesen, kein Mamakind, und konnte deshalb „nie einen Grant haben“ auf die Männer.
Halbe-halbe gelebt hat sie auch nicht, nicht einmal 90-10, auch wenn sie die Idee gut fand. Bei ihrem Schwiegersohn kam es ihr dann aber schon ein bisschen komisch vor, wenn der in der Küche rumwuselte: „Irgendwie hat mich das nicht enflammiert.“
Und trotzdem ärgerte sie sich im „Standard“-Interview 2016 über so viele „junge Schnepfen […], die sich hinsetzen und sagen: ,Wir brauchen keinen Feminismus mehr, denn wir haben schon die ganze Gleichberechtigung erreicht.‘“ Dennoch ist Nöstlinger für mich eine Künstlerin, die den Feminismus so lebte, wie ich ihn verstanden haben will: undogmatisch und inklusiv, widerspenstig und humorvoll, mit einem Blick auf Minderheiten und dem Anspruch auf Egalität, Rollenbilder ins Wanken bringend, die eigene Herkunft reflektierend. Einen Feminismus, den manche heutzutage als intersektional oder auch als queer bezeichnen würden, weil er Diskriminierungen nicht hierarchisiert und immer auch Machtverhältnisse – ökonomische und soziale – im Blick hat und infrage stellt.
„Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: ‚Das hat doch niemand gewollt!‘“ (Rede vor dem österreichischen Parlament 2015 bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen).
Christine Nöstlinger ist tot. Sie fehlt.
Bücher von Christine Nöstlinger, die ich mit meinem 13-jährigen Sohn gerne wieder lesen würde:
Das Austauschkind, Gulliver 2018, 7,20 Euro
Maikäfer flieg, Gulliver 2018, 8,20 Euro