Wie politisch das Private ist, lässt sich an den Memoiren der US-amerikanischen feministischen Ikone GLORIA STEINEM ausgezeichnet nachvollziehen. Von ARTEMIS LINHART
Anfang des Jahres gründete die Schauspielerin Emma Watson einen feministischen Online-Lesekreis namens „Our Shared Shelf “, bei dem monatlich ein Buch gemeinsam diskutiert werden soll. Als erstes Werk wählte sie Gloria Steinems kürzlich (bislang nur auf Englisch) erschienene Memoiren „My Life on the Road“ aus und brachte damit im politisch brisanten US-Wahljahr medienwirksam die Stimme einer Feministin der zweiten Welle zu Gehör.
Das Erscheinen fällt praktischerweise mit den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen zusammen. Beim Lesen stellt sich unweigerlich die Frage, ob Steinem damit ihren politischen Einfluss zugunsten Hillary Clintons auszuspielen versucht. Hat sie sich 1996 noch für Bernie Sanders’ Wiederwahl als Senator eingesetzt und ihn gar als „honorary woman“ bezeichnet, positioniert sie sich nun auf Clintons Seite.
Streifzüge. Die heute 81-Jährige blickt in ihrer Autobiografie auf ein Leben zurück, das sowohl beruflich als auch emotional zu großen Teilen davon geprägt ist, unterwegs zu sein. Die Straße als Ort der Freiheit, der Aktivität und der Umtriebigkeit (im krassen Gegensatz zu Heim und Herd und all jenem, das früheren Generationen sonst noch heilig war) wird dabei als männliche Domäne identifiziert und mithin zurückgefordert. Steinem möchte ihre persönliche Reise allerdings nicht als road trip im Kerouac’schen Sinn verstanden wissen. Statt einer temporären Rebellion, einer Entdeckungsreise des Selbst ist das Unterwegssein für sie vielmehr eine zentrale Charaktereigenschaft. Steinem bezieht sich sehr stark auf ihren Vater, dessen Rastlosigkeit ihr Familienleben ohne fixes Zuhause geprägt und ihre Lust an einem nomadischen Lebensstil entfacht hat.
Umwege. Daher handelt das Buch auch kaum von der Gründung des „Ms. Magazine“ 1971 – einer eher ortsgebundenen Unternehmung – und mehr von ihren politischen Projekten. Ganz Nordamerika bereisend, fungierte Steinem als Organisatorin, war Anlaufstelle und treibende Kraft für feministische Anliegen und Entwicklungen. Dem Lesekreis gar nicht unähnlich ist Steinems bevorzugte Arbeitsweise: „Talking Circles“ sind Zusammenkünfte Gleichgesinnter mit politischer Agenda, deren Leitung sie zwar übernimmt, doch deren eigentliche Stärke darin liegen soll, die Zügel dem Publikum selbst zu überlassen.
Strukturiert ist das Buch eher chaotisch. Unzählige Ereignisse, Veranstaltungen und Prozesse finden Erwähnung, deren zeitliche oder kausale Einordnung wird durch Abschweifungen oftmals erschwert. Ein Abdriften in Details und das Anschneiden zahlloser Anekdoten machen „My Life on the Road“ so teilweise zu einer historischen Irrfahrt.
Einsichten. Steinem lässt die private und politische Sphäre stets verschmelzen, ihr Zugang bleibt immer subjektiv. Anstatt zu belehren, übermittelt sie Fakten meist mit einer Bemerkung dazu, wie sie selbst mit jenem Thema vertraut wurde oder welche Reaktion dabei in ihr hervorgerufen wurde. Diese gewisse Demut ist besonders dann von Vorteil, wenn sie sich auf dem komplexen Terrain der Intersektionalität bewegt und dabei Rassismus, Klassismus, Ableismus und Religion thematisiert.
Das Abfahren all dieser Strecken ist es auch, was das Buch zu einer so vielseitigen und wertvollen Reise macht. Nicht zuletzt gesteht Steinem dabei auch immer wieder ihre Schwächen ein. Etwa wenn sie von ihren Lernprozessen und – so erstaunlich es bei einer Karriere, die vornehmlich auf öffentlichem Reden basiert, auch erscheinen mag – ihrem heillosen Lampenfieber erzählt.
Einblicke. Der Kreis schließt sich im letzten Teil des Buches über indigene Gesellschaftsstrukturen, in dem gezeigt wird, dass das präkolumbische Amerika matrilinear (also mit weiblicher Erbfolge) angelegt war. Im Kapitel mit dem Titel „What Once Was Can Be Again“ blickt Steinem hoffnungsvoll in eine Zukunft, in der sie es für möglich hält, aus dem rigiden Gerüst des Patriarchats auszubrechen und zu Werten zurückzukehren, die eine Gleichstellung der Geschlechter als selbstverständliche Weltordnung anerkennen. Was weitgehend fehlt, ist das Hinterfragen binärer Geschlechterkonstruktionen. Trans-Identitäten etwa kommen in dieser trans-amerikanischen Entdeckungsreise nicht vor. Nichtsdestotrotz ist „My Life On The Road“ eine lohnende Lektüre, die Einblicke in das Leben einer feministischen Ikone und zahlreicher Wegbegleiter_innen gibt.
Gloria Steinem: My Life on the Road
Oneworld Publications
2015, ca. 22 Euro