Dass das Konzept der zwei Geschlechter nicht das Gelbe vom Ei ist, haben einige schon geahnt. Sie und auch alle anderen schicken die kanadischen Kunstschaffenden Rae Spoon und Ivan E. Coyote mit ihrem Buch „Gender Failure“ in Genderfrühpension. Von LISA BOLYOS
Wen hat das binäre Genderkonzept noch nie im Stich gelassen? Wer hat noch nie gedacht, wär ich bloß … oder: Wär ich doch nur nicht …? Wer kann null frühkindliche Erinnerungen aufzählen (verdrängen gilt nicht!), in denen eine Bestätigung für geschlechterrollenkonformes oder eine Rüge wegen rollenverweigernden Verhaltens vorkommt? Na eben. Umso besser also, dass Ivan E. Coyote und Rae Spoon ein Buch für uns alle geschrieben haben.
Genderkorsett. Ivan E. Coyotes Feld ist die Literatur. Rae Spoon macht Musik. In ihrem ersten gemeinsamen Buch, „Gender Failure“, erzählen die beiden davon, wie sie den Umgang mit ihrem Geschlecht und ihrer Sexualität erleben und gestalten – im öffentlichen Raum, auf der Bühne, in privater Intimität. Die Erfahrungen überschneiden sich und unterscheiden sich, in wechselnden Kapiteln – Spoon, Coyote, Spoon, Coyote – versammeln sie sich, 256 Seiten lang. Vom Kind sein – nicht im falschen, sondern im beständig falsch interpretierten Körper – ist die Rede, von der Vielfalt an Sexualität, die sich anbietet, und dem kleinen Ausschnitt, aus dem mensch nur wählen darf (wegen der Eltern, der Kirche, der eigenen Strenge); vom ersten Aufmerksamwerden: Da ist ja noch was anderes möglich, gilt das auch für mich …? Von Gehversuchen in neuen Konzepten und wie auch die wieder zu eng werden.
Gendercomedy. Mehr als eine Erzählung vom „Gender Failure“ wurde daraus ein Handbuch „to let the gender concept fail“. Nicht nur die Idee von der Binarität der Geschlechter greifen Spoon und Coyote in ihren anekdotenhaften Erzählungen an, sondern den generellen Anspruch, sich ständig für irgendeine Form von Geschlecht – und das entsprechende Aussehen, das Auftreten, das Sein und das Begehren – entscheiden zu müssen. Vom ratlosen Heteramädchen zur jungen Lesbe, vom Hetero-Transmann zum Schwulen. Vom Stress, sich als Nicht-Frau durchsetzen zu müssen hin zum Stress, als Transmann doch nicht zu genügen. Nicht nur die konservative Großfamilie in den kanadischen Prairies trägt ihre Genderbrillen; auch angesichts der konformistischen Vorstellungen in der eigenen Szene darüber, wie Gender 2.0 aus-sehen muss, kann dir das Kotzen kommen – bloß, auf welches Klo rennst du? Das mit dem Rockmensch oder das mit dem Hosenmensch?
Auf langen Tourneen quer durch kanadische Klein- und Großstädte lernt Spoon, zweitweise der Countrymusik verschrieben, die vielen Schattierungen fehlender Akzeptanz kennen: Die einen wollen Geschlechterklarheit und schöpfen – gespeist von Verunsicherung und Transphobie – Verdacht beim Auftreten dieses zarten Sängers (der zu allem Irrsinn dann auch noch Liebeserklärungen singt – an Männer, an Frauen, an weiß-man-nicht-wen und an die kanadischen Landschaften). Die anderen wollen Transklarheit und sind irritiert von Raes hoher Stimme, die ihnen als Hinweis auf die „fehlende“ Hormontherapie gilt. Woraus Spoon die Erkenntnis zieht: „Throughout the interactions I’ve had over the past ten years, I’ve learned that the gender binary is more of a comedy skit than a fact.“
Genderpension. Die Conclusio aus jahrelangen Kämpfen um und mit Geschlechterrollen ist der Ruf nach „gender retirement“ – in Genderpension gehen, oder lieber noch in Genderfrühpension. Das will heißen: Nicht länger um Anerkennung für dieses oder jenes Geschlecht strampeln, sondern die ganze leidige Konzeption von der Geschlechts-„Identität“ auf den Schutthaufen der (individuellen und allgemeinen) Geschichte werfen.
Von Hoffnungsschimmern erzählen die zwei indes nur punktuell: Die Begegnung mit einem Teenie-Transmann in der Holz- und Minenstadt Prince George gehört da etwa dazu, der kurz vor Beginn seiner Hormontherapie von seinen Eltern zu Rae Spoons Konzert eingeladen wird; oder der Kantinenangestellte, der Coyote „Miss“ nennt, worauf Coyote entgegnet: „Actually, I prefer Sir.“, und der andere, unaufgeregt: „So does my mum.“ Mehr davon!, wünscht sich die erschöpfte Leserin. Mehr von den Ermutigungen, der Energie, gespeist aus den guten Momenten, dem Schmäh, der eine_n die humorfreien Gefilde aushalten lässt. Gender fails you? Make gender history! l
Lisa Bolyos ist unter anderem Nebenerwerbsbäuerin. Sie wollte in Kinderjahren so lange ein Bub sein, bis sie in Erfahrung bringen konnte, dass Traktorfahren eine geschlechtsunabhängige Angelegenheit ist.