Vegetarismus als Abschied auch vom eigenen Fleisch: CAROLIN HAENTJES über den ausgezeichneten Roman „Die Vegetarierin“.
Eine Frau räumt nachts den Kühlschrank aus. Wegen eines Traums, sagt sie, im Nachthemd zwischen Gefrierbeuteln voller Schweinebauch und Tintenfisch hockend. Ihr Mann ist fassungslos. Was ist los mit dieser Frau? Sie war so wunderbar funktional, jetzt fängt sie an zu provozieren: ernährt sich vegetarisch, kocht auch ihm kein Fleisch mehr, sitzt beim Geschäftsessen ohne BH am Tisch. Unansehnlich wird sie außerdem, mager und übernächtigt. Er schaltet ihre Familie ein. Alle reden auf sie ein, versuchen sie mit Gewalt und Intrigen von ihrem individualistischen Spleen abzubringen – nur zu ihrem Besten natürlich.
Krank vom Fleisch. In Südkorea, wo die Autorin Han Kang lebt, ist bewusst fleischfreie Ernährung selten. Aber die Aggression, die „die Vegetarierin“ des gleichnamigen Romans wegen der Entscheidung über ihre Ernährung erfährt, ist auch deshalb verstörend, weil Yong-Hyes Vegetarismus offensichtlich pathologisch ist. Und die Reaktionen der Familie treiben sie nur tiefer in ihren Wahn. Was sie bewegt, begreift niemand.
Zu sehr sind die Personen, die das Geschehen schildern, in ihrer eigenen Weltsicht gefangen. Ihr gefühlskalter Ehemann berichtet über Yong-Hye, als wäre ein Küchengerät kaputtgegangen. Ihr Schwager stilisiert sie zu einer Muse, um seine künstlerische Schaffenskrise zu überwinden. Und die Schwester, die Yong-Hye in die Klinik hat einweisen lassen, wirft ihr Selbstsucht und Verantwortungslosigkeit vor. In dieser Krankheitsgeschichte in drei Akten kommt die Protagonistin selbst kaum zu Wort. Lediglich in ein paar kurzen Sequenzen ist zu lesen, was für gewaltgetränkte Bilder sie verfolgen: Albträume, in denen sie durch dunkle Wälder hetzt, sich in ein Schlachthaus verirrt und in einer Blutlache ihr Spiegelbild sieht. Erinnerungen, wie ihr Vater den Hund, der sie gebissen hatte, zu Tode hetzte und sie selbst von seinem Fleisch aß, nachdem sie das Tier hatte sterben sehen. Und jetzt ist da dieser andauernde Magendruck. „Was sich dort angesammelt und festgesetzt hat, das sind Schreie und Gebrüll. Und die kommen vom Fleisch. Ich habe zu viel davon gegessen. All die Seelen sind dort eingeklemmt, da bin ich sicher.“

Jägerin & Gejagte. Es scheint, als sei Yong-Hye zu Bewusstsein gekommen. Sie kann die Gewalt und die Schuld, die sie durch ihr „normales“ Leben auf sich geladen hat, nicht mehr verdrängen. An diesem animalischen Mensch-Sein, das seine „Zivilisiertheit“ durch Eroberung und Unterwerfung behauptet, möchte sie nicht mehr teilhaben. Sie muss ihr Leben auf eine andere Grundlage stellen. Sie versucht ein Baum zu werden.
Han Kangs Heldin hat eine Schwester im antiken Mythos: Die Nymphe Daphne, die auf der Flucht vor dem lüsternen Apoll in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Daphne hatte ihren Vater angefleht, ihr die reizende Gestalt zu nehmen. Auch Yong-Hye flieht – vor ihrem Mann, der sie nachts ganz selbstverständlich vergewaltigt. Aber bei ihrer Metamorphose bittet sie niemanden um Hilfe, die erotische Ausstrahlung hungert sie ihrem Körper ganz alleine weg. Mit einfachen, hypnotisch klaren Sätzen lotet Han Kang die weibliche Position in einer engen, patriarchalen Ordnung aus: Das Paradox, zugleich Jägerin und Gejagte zu sein.
Universelles Auflehnen. Irgendwann glaubt sich Yong-Hye kurz vor der Überwindung ihrer Menschlichkeit. Die Ärzte sagen, dass sie stirbt. Das letzte Wort hat Yong-Hyes große Schwester In-Hye – sowohl über Yong-Hyes Zwangsernährung als auch über die Deutung der Geschichte. Aber sie, die Yong-Hye die ganze Zeit begleitet hat, starrt auf Bäume, ihre Zweige und wie sich das Licht zwischen dem Grün der Blätter bricht. Die Sehnsucht nach einem Leben jenseits des gesellschaftlichen Zwangssystem, das kann sie nachfühlen – aber inwieweit kann man sich gegen das Leben auflehnen, ganz grundsätzlich? Es sind bodenlose Fragen, die „Die Vegetarierin“ aufwirft. Völlig zu Recht wurde Han Kang im Sommer mit dem wichtigsten britischen Preis für internationale Literatur bedacht. Ironischerweise heißt die Auszeichnung Man Booker Prize.
Carolin Haentjes arbeitet in Berlin als freie Journalistin.
Han Kang: Die Vegetarierin
Aufbau 2016, 19,50 Euro