Opernhafte Elektronik, Zuckerpop, Retro-Girl-Group-Sound und Ambient-Drones verbreiten im Winter überbordend gute Laune – aber auch ein wenig Melancholie. Von SONJA EISMANN
Planningtorock klotzt – und kotzt ab über heterosexistische Herrschaftsverhältnisse. Wie das im Œuvre einer für ihre opulent melodramatischen, rätselhaften Elektrokompositionen bekannten Künstlerin zusammengeht? Ganz bombastisch. Harte Politparolen treffen auf jubilatorische Tanzmusik. Während die Performerin, die sich unlängst von Janine in Jam Rostron umbenannte, auf ihren beiden Vorgängeralben noch subtil Kritik am Status Quo übte, heißt es auf All Love’s Legal (Human Level Recordings/Good To Go) ganz unambivalent: „Misogyny Drop Dead“, „Patriarchy Over & Out“ oder „Beyond Binary Binds“. Sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten, dass der in ihrem Alltag präsente Aktivismus nicht mit der für sie so lebenswichtigen eigenen Musik deckungsgleich war, so Rostron im Interview mit dem „Missy Magazine“. Dabei hilft ihr das so einleuchtende wie geniale Verfahren, ihre eigene Stimme in mittlere Bereiche zu pitchen, sodass sie weder „männlich“ noch „weiblich“ klingt. Doch damit nicht genug: Mit respektvollen Anleihen an die emanzipatorische Tradition Schwarzer House-Tracks oder mit einer Neuversion von Salt’n’Pepas Aufklärungs-Classic „Let’s Talk About Sex, Baby“, der hier als bass- und fanfarenlastiges Dance-Monster „Let’s Talk About Gender, Baby“ daherkommt, wird auch auf die Kontingenz von Kategorien wie „Race“ angespielt. Und natürlich kommt, trotz der überbordenden Celebration von Queerness, auch der markant düstere, opernhafte P2R-Sound nicht zu kurz. Schon jetzt eine der Platten dieses noch so jungen Jahres.
Neue Jahre sind tatsächlich immer wieder für Überraschungen gut. So kommt eine alte Bekannte, die man nach all der Zeit bereits für inaktiv hielt, mit einem Werk zurück: Paula, das Berliner Doppel aus Elke Brauweiler und Berend Intelmann, das 2000 mit seinem Debüt „Himmelfahrt“ mit zuckersüßen Quietschpopmelodien gleichermaßen begeisterte wie auch irritierte. War das nun eine Schlagerparodie oder eine autarke, ganz neue Form von Pop? Die Frage stellt sich nach fünf Alben mit wechselnden Mitstreitern bei der in Originalbesetzung aufgenommenen, selbstbetitelten Platte (QQ5/Good To Go) wieder, und das ist nach wie vor entzückend. Die von Brauweiler glasklar und schwindelerregend hoch gesungene Naivität von Zeilen wie „Ihre blauen Augen waren so blau wie der Blue Curaçao, den sie tranken, weil sie noch nichts anderes kannten“ kontrastiert mit einer abgeklärt dengelnden Indiegitarre, harmoniert aber doch perfekt mit den ohrwurmsicheren Synthie-Melodien. Schön, wenn alte Bekannte so beschwingt wiederkommen!
Natürlich gibt es auch die Freude darüber, Neues zu entdecken – auch, wenn es sich so anhört, als müsste es The Anna Thompsons eigentlich schon seit Jahrzehnten geben. Das neugegründete Quartett spielte zunächst in einem Neuköllner Proberaum Covers von Kate Bush, Joy Division und Wire. Auf dem selbstbetitelten Debüt (Motor/EDEL) fällt der eigene Stil definitiv Rock’n’Roll-retro aus, wofür nicht nur der orgelige Synthie-Sound und die schrammelnden Gitarren verantwortlich sind, sondern auch der von allen vier Frauen geteilte Chorgesang, der sowohl an originale Sixties-Girl-Groups mit ihren Vokalharmonien wie auch an Reprisen derselben durch Post-Riot-Grrrl-Bands denken lässt.
Nach diesem Triple-Package überbordend guter Laune zollt aber eine Platte auch dem Winter mit all seiner Melancholität Tribut: This Kindly Slumber (Denovali/Cargo) von Birds of Passage. Schon das Cover des dritten Albums der Neuseeländerin Alicia Merz evoziert mit seinen kahlen, nebelverhangenen Bäumen und dem dunklen Waldboden, der eine bizarre Krone für ein im Erdreich verschwindendes Frauengesicht bildet, märchenhafte Winterverlorenheit. Flirrende bis düstere Drones bilden den Untergrund für Merz’ durch die Weite wehenden, geflüstert bis gehauchten Vocals; sachte pulsierende Ambientteppiche laden zum kühlen Ankuscheln und -frösteln ein. So lässt sich der Winter auch in seinen letzten Zügen aushalten.