Sich (neu) erfinden: Wie überzeugend das vier sehr unterschiedlichen Musikerinnen gelingt, hat sich CHRISTINA MOHR angehört.
Alle Geheimnisse um Lana Del Rey sind bereits gelüftet: Unter ihrem echten Namen Lizzy Grant versuchte sie sich schon einmal erfolglos als Popstar, als Lana Del Rey nun sind die Lippen aufgespritzt, Fingernägel und Wimpern angeklebt – mehr exaltierte Künstlichkeit war selten, allerdings anders als Lady Gagas Parodie der Pop-Gegenwart. Die „Ghetto Nancy Sinatra“ spielt mit 50er-Jahre-Ästhetik, die Verklärung der Vergangenheit wird nur kaum – etwa durch HipHop-Beats – gebrochen. Born To Die (Vertigo/Universal), eine pseudo-nihilistische Antwort auf Gagas „Born This Way“, erfüllt die hohen Erwartungen nicht. Del Reys mit „Video Games“ und „Blue Jeans“ eingeführter „Sadcore“ geht zwar ans Herz, aber wenn dasselbe Muster zwölfmal angewandt wird, ist das Ergebnis arg langweilig, zumal Del Reys immergleiche Inszenierung als verlassenes Bad Girl, das mal ein Good Girl war, schnell nervt.

Kommen wir zu erfreulichen Neuigkeiten. Auf ihrem Mercury-Prize-geadelten Debüt „Speech Therapy“ klang Rapperin Corynne Elliot aka Speech Debelle noch ziemlich zurückhaltend, mit ihrer neuen Platte Freedom of Speech (Big Dada/Rough Trade) legt die Südlondonerin eine Schippe Selbstbewusstsein nach. Das schlägt sich v.a. musikalisch nieder: Crossover aus Rock und HipHop, aber auch Soul und Disco, gemixt aus programmierten und „echten“ Beats, bilden den Rahmen für Debelles Lyrics, die unter dem Eindruck der Londoner Krawalle von 2011 entstanden sind. Mit „Blaze Up A Fire“ (feat. Roots Manuva) und „X Marks the Spot“ zeigt Speech Debelle politische awareness, das eingängige „I’m With It“ und „Angel Wings“ sind Liebeslieder, der Schlusstrack „Sun Dog“ Speechs Manifest: roh, tiefgängig, entblößend. Mit ihren emotionalen, reflektiert-humorvollen Texten und kindlich zarten Vocals hat Speech Debelle eine eigene Ausdrucksform gefunden. „Freedom of Speech“ hat nichts mit rap-typischem Gepose gemein, deswegen ist Speech Debelle die vielversprechendste Erneuerin des Genres.
„You and I“ ist kein ungewöhnlicher Albumtitel: Lady Gaga, The Pierces, Celine Dion haben Platten so genannt. Wenn aber Elektro-Musikerin Leila Arabs Album so heißt, hat das mit gefälligem Charts-Pop nichts zu tun. Zu ihrer letzten Platte „Blood, Looms and Blooms“ sagte Leila, dass sie niemandes Erwartungen erfüllen, sondern nur dem „Noise huldigen“ wolle. Doch im Vergleich zu U&I (Warp) klang dieses sehr gefällig. „U&I“ ist ein dunkles, grollendes Maschinengewitter, das nur selten aufgelockert wird, z.B. vom poppigen „Boudica“. Auf den übrigen Tracks macht die iranischstämmige Künstlerin keine Kompromisse: Die schiefen Gastvocals von Mt. Sims sind die perfekte, anstrengende Ergänzung zu Leilas bollerndem, harschen Synthie-Tech. Man denkt an frühen Industrial und düstersten Detroit-Techno. „U&I“ wäre der passende Soundtrack für die sterbende Motorcity, eine Fabrikruine der ideale Club für Leilas Musik. Das Cover zeigt die Anzeige eines Computers nach einem Crash. Genauso fühlt man sich nach dem Anhören: kaputt, leer, bereit zum Reboot.
2009 war die damals 18-jährige Steirerin Anja Plaschg alias Soap & Skin der Überraschungsstar des Jahres. Das schwermütige Wunderkind am Klavier, das so morbid, genialisch und immer auch ein bisschen wahnsinnig wirkte, versetzte mit ihren an Gustav Mahler erinnernden Totenhymnen die Indie-Gemeinde in ehrfürchtiges Staunen. Jetzt ist Plaschg eine Halbwaise: Der Vater ist gestorben, die Tochter setzt ihm mit dem Songzyklus Narrow (Pias) ein Denkmal. Und der Tod eines Elternteils macht erwachsen, ob man will oder nicht. Zwar ist „Narrow“ immer noch stockfinster, wirkt aber aufgeräumter als das Debüt „Lovetune For Vacuum“. Erstmals singt sie deutsch, das Stück „Vater“, und covert den 80er-Jahre-Hit „Voyage, Voyage“. Soap & Skin klingt vergleichsweise zugänglich, die Grundelemente sind aber unverändert: dramatisches Klavier, intensiver Gesang, heiliger Ernst in jedem Ton, in jeder Geste. Songs wie „Deathmental“ stehen wie schwarze Baumgerippe in einer sich leise dem Frühling öffnenden Landschaft.
Links:
www.lanadelrey.com
www.speechdebelle.com
www.myspace.com/leilaarab
www.soapandskin.com