Sie schauspielert, führt Regie, leitet ein Laboratorium für Diversität und kämpft gleichzeitig gegen die Vereinnahmung von außen. Jetzt bereitet Tausendsassa Aslı Kışlal „Medeas Töchter“ im Dschungel Wien vor. Von Olja Alvir
„Wir sind in einer Zeit des Verlernens und Neulernens“, sagt Aslı Kışlal. Zu denen, die diese Epoche eingeleitet haben, zählt sie allemal. Kışlal leitet das diverCITYLAB für mehr Diversität im Theater, eine „kunstpolitische Aktion, getarnt als Schauspielakademie“, wie sie sagt. In der Vergangenheit war Kışlal Dreh- und Angelpunkt vieler Kunstprojekte wie etwa „daskunst“ oder „PIMP MY INTEGRATION“.
„Es hat sich einiges getan“, meint Kışlal im Rückblick auf die vergangenen Jahre. Die „postdramatische“ Phase des Theaters habe sich positiv auf die Sichtbarkeit von Migrant_innen und anderen Marginalisierten in der Kunst ausgewirkt: „Im postdramatischen Theater werden die Seh- und Hörgewohnheiten und Hierarchien des Theaters in Frage gestellt. Das öffnete den Raum für zuvor ignorierte Gesichter und Geschichten.“ Das Personal auf der Bühne ändere sich langsam, die Stoffe hielten allerdings noch nicht ganz mit. „Der nächste Schritt ist, mit den diversen Ensembles eine Normalität der Themen herzustellen. Migrationsgeschichten etwa sind keine Randgeschichten. Sie sind normal in dem Sinne, dass sie die Norm darstellen in einer Migrationsgesellschaft.“ Migrantische Schauspieler_innen würden auch heute noch zu oft in weiß zentrierte Narrative hineingeschrieben und nach deren Logik dargestellt.
Das erfuhr Kışlal auch an eigenem Leibe. Am Anfang ihrer Schauspielkarriere wurde sie rassistisch-stereotyp gecasted. Wenn man sie googelt, ist unter den ersten Ergebnissen ihr „International Movie Database“-Eintrag, wo sie zwei Mal als „Burkafrau 3“ geführt wird. „Ja, das ist skurril. Diese Rolle habe ich angenommen, weil die sogenannten Burkafrauen in dieser Serie sehr interessanten Text haben und mit den intellektuellen Verweisen darin das typisch klischeehafte Bild der verhüllten Frau unterlaufen“, so Kışlal. „Dass diese Figuren dann trotzdem nur Burkafrau 1, 2 und 3 heißen, unterläuft diese Idee wiederum.“ Das Mädchen mit dem Kopftuch und dem schlechtem Deutsch – diese Rolle hat Kışlal schon einige Male durchgespielt. „Nach einer Zeit merkte ich, welche Klischees ich da mitbediene. Da ist mir klargeworden, in welchen Schlamassel ich gerate, wenn ich die Angebote nicht reflektiere. Danach habe ich fast alles abgesagt.“
Als einer der Eckpfeiler der Wiener Kunst- und Kulturszene wurde Kışlal bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie 2014 den MiA-Award (Migrantinnen Award für Integration). Doch sie ist eine widerwillige Preisträgerin, die die Vereinnahmung durch Institutionen ebenfalls kritisch reflektiert. „Die erste Nominierung zog ich selbst wieder zurück. Der Fragebogen, der mir geschickt wurde, enthielt nur Fragen zur eigenen Opfergeschichte. Sehr problematisch.“ Als sie ein paar Jahre darauf wieder nominiert wurde, wusste das Komitee schon Bescheid – kein Fragebogen für Kışlal, stattdessen gab’s ein Interview. „Die Verleihung nutzte ich dann, um den Integrationsdiskurs zu kritisieren. Warum braucht es immer die erfolgreichen Vorzeigemigrant_innen? Was heißt das für die Kunstszene, wenn ich hier ausgezeichnet werde, während an den großen Theatern weiterhin institutionell diskriminiert wird?“ Der Applaus für ihre Dankesrede beim MiA-Award war verhalten. Doch den Zuspruch sucht Kışlal ohnehin anderswo, und dort bekommt sie ihn allemal. Demnächst, sofern die Corona-Krise es erlaubt, am Dschungel Wien gemeinsam mit Magdalena Chowaniec, Yasmo, Esra Özmen und vielen mehr beim Projekt „Medeas Töchter“, bei dem marginalisierte Mädchen und junge Frauen im Zentrum stehen.
Auch wenn Streams in Zeiten der Pandemie das Theater an zuvor unentdeckte Orte tragen, so hofft Kışlal auf ein baldiges physisches Wiedersehen. Denn die Interaktion mit den Menschen ist, was ihr die Kraft für ihre zahlreichen Projekte gibt. „Im Theater ist jeder Abend ist anders. Ich fühle eine positive Aufregung und auch ein kleines bisschen Angst – das ist der Respekt vor der Kunst – vor jedem Auftritt. Man entdeckt jedes Mal die Geschichte gemeinsam neu. Und das Lebendige hält uns wach und wachsam.“
Olja Alvir ist Autorin in Wien. Sie sammelte ihre ersten Theatererfahrungen am feministischen Theater Drachengasse und am inklusiven Theater Delphin. Nach diesem Text bekam sie direkt auch Lust aufs diverCITYLAB.