In Ungarn macht ein ehemaliger Günstling der Fidesz-Regierung Viktor Orbán Konkurrenz. Frauen verspricht er „mehr Respekt“. Kann er wirklich etwas verändern?
Von Lisa Erzsa WEIL
Es ist der 5. Mai 2024, Muttertag in Ungarn. In der ost-ungarischen Stadt Debrecen hat sich der Hauptplatz mit hunderten Menschen gefüllt. Sie schwenken die rot-weiß-grüne Nationalflagge. Als Péter Magyar auf die Bühne tritt, jubelt das Publikum. Er winkt, zieht seine Sonnenbrille ab und beginnt seine Rede. Magyar ist seit Wochen im ganzen Land unterwegs, um die Ungar*innen von seiner politischen Vision zu überzeugen. „Ich will ein neues, friedliches, modernes, lebenswertes Ungarn – und mehr Respekt den Frauen“, ruft der 43-jährige Jurist auf dem Muttertagsevent in Debrecen.
„Wir veranstalten keine politischen Demonstrationen am Muttertag“, sagt hingegen der langjährige Ex-Bürgermeister Debrecens, Fidesz-Politiker Lajos Kósa. „Stattdessen sollte Müttern an diesem Tag mit Blumen gratuliert werden.“ Debrecen ist eine der vielen Fidesz-Hochburgen in Ungarn. Und der Muttertag ist hierzulande wie der Frauentag traditionell eine Gelegenheit, um Frauen mit Rosen und Pralinen zu beschenken.
Würde es für die ungarischen Frauen unter Magyar mehr geben als Schokolade und Blumen?
In seiner Rede verspricht der Oppositionspolitiker u. a. gerechtere Renten für Frauen, Unterstützung bei der Rückkehr von Müttern ins Berufsleben sowie mehr Geburtskliniken. Ärzt*innenmangel hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass einige Geburtskliniken in Ungarn zeitweise oder dauerhaft schließen mussten. Ein Grund dafür ist der Braindrain der letzten Jahre: Schätzungen zufolge sind 300.000 bis 400.000 Ungar*innen in Länder wie Österreich, Deutschland, Großbritannien und nach Skandinavien abgewandert.
„Frauen sollten so viele oder wenige Kinder bekommen, wie sie möchten“, betont Magyar, selbst Vater von drei Kindern, in Debrecen. „Das sollten sie frei entscheiden dürfen, doch dafür brauchen sie finanzielle Sicherheit, eine bezahlbare Wohnung, eine Perspektive.“ Konkreter wird der Politiker nicht, sein Wahlprogramm sucht man derzeit noch vergebens. Erst im April hat sich der 43-jährige Jurist der Partei Tisza angeschlossen, um für die Europawahl zu kandidieren. Nun liegen seine Umfragewerte zwischen 18 und 26 Prozent. Wie erklärt sich sein Erfolg?
SYSTEM ORBAN. Das Phänomen Péter Magyar als neuer oppositioneller Akteur kommt scheinbar aus dem Nichts. Bekannt war er den meisten Ungar*innen bisher als (inzwischen Ex-)Ehemann der ehemaligen Justizministerin Judit Varga (Fidesz).
2023 legte Varga ihr Amt als Justizministerin nieder. Der Grund: Die Begnadigung des Helfershelfers eines pädophilen Missbrauchstäters, der als Leiter des Waisenhauses von Bicske jahrelang minderjährige männliche Schutzbefohlene sexuell missbrauchte.
Zuvor hatte sich die rechtspopulistische Regierungspartei Fidesz immer wieder den Kinderschutz auf die Fahne geschrieben: „Wir müssen die Kinder schützen“ – unter diesem Slogan verschickte die ungarische Regierung 2022 eine Volksbefragung. Minderjährige müssten vor der „LGBTQ-Lobby“ beschützt werden, die auch die EU förderte. Zuvor war ein „Kinderschutz-Gesetz“ verabschiedet worden, das einen Zusammenhang zwischen pädophiler Täterschaft und sexueller Orientierung herstellte, indem es Kinder vor Inhalten schützen wolle, die eine „Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität fördern oder zeigen“.
Auch aufgrund solcher politischer Entscheidungen stellte der Begnadigungsfall für viele Menschen in Ungarn eine Zäsur dar. Die Glaubwürdigkeit der Regierung ist ins Wanken geraten. Im Februar gingen in Budapest Zehntausende bei Demonstrationen auf die Straße. Seit 2010 regiert Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei und in Koalition mit der christlich-konservativen KDNP Ungarn, seine Politik richtet sich gegen Minderheiten, gegen die Freiheit der Medien und gegen Geflüchtete – sie hat das Land nachhaltig verändert. Das Europäische Parlament bezeichnet Ungarn als „hybrides Regime der Wahlautokratie“.
Der größte Protest gegen das System Orbán wurde zuletzt von ungarischen Influencern organisiert, darunter Edina Pottyondy. Sie ist feministische Stand-up-Comedian, politische Aktivistin und war zuvor Mitglied der liberalen Partei Momentum. In wöchentlichen YouTube-Videos kommentiert sie die Ereignisse in Ungarn. Der Begnadigungsfall zeige endgültig, dass der ungarische Staat versagt habe, so Pottyondy auf dem Budapester Protest.
AGGRESSOR ODER HEILAND? Auch Magyar nutzte die Gunst der Stunde, um Kritik an Orbán zu üben: Er verfasste zunächst einen viel beachteten Facebook-Post, in dem er die Vetternwirtschaft in Ungarn kritisierte und seinen Rücktritt von allen staatlichen Positionen bekanntgab. Außerdem gab Magyar Interviews, hielt Reden in der ungarischen Hauptstadt und wurde Stück für Stück zur öffentlichen Figur. Ein Insider, der nun auspackt: Das machte auch enttäuschte Fidesz-Wähler*innen neugierig.
Die ungarische Regierung versuchte zunächst, Magyar zu ignorieren. Noch im Februar hatte Magyar keine Pläne, als Oppositionspolitiker anzutreten. Dann jedoch machte er heimliche Aufnahmen öffentlich, die seine Ex-Frau der Vetternwirtschaft bezichtigen. Varga reagierte, beschuldigte Magyar der häuslichen Gewalt. Und für die Ungar*innen stellt sich seitdem die Frage: Aggressor oder Heiland, Nutznießer oder Hoffnungsträger – wer ist Magyar? Und wie mit Vargas Anschuldigungen umgehen?
Das Thema spaltet auch feministische Meinungsträger*innen in Ungarn. „Es ist ein Dilemma“, so YouTuberin Pottyondy. „Manche sagen, Magyar sei ein narzisstischer Missbrauchstäter. Andere halten ihn für unsere letzte Hoffnung. Ich glaube, es gibt eine Gleichzeitigkeit. Diese Standpunkte schließen sich überhaupt nicht aus.“ Magyars Ex-Frau Varga bezichtigt linksgerichtete Frauenrechtsorganisationen derweil der selektiven Empathie.
Die Journalistin und Psychologin Domi Milanovich schreibt darüber in einem Meinungsartikel: „Judit Varga sagt, sie sei stolz darauf, Justizministerin in der Regierung von Viktor Orbán gewesen zu sein. Sie war die Ministerin, die 2019 die Debatte über das Inkrafttreten der Istanbul-Konvention als ,politische Hysterie‘ bezeichnete. Gleichzeitig erklärte sie, dass die Situation der Frauen in Ungarn am besten sei, sie müssten sich nicht zwischen Familie und Arbeit entscheiden, und die Regierung unternehme auch etwas gegen häusliche Gewalt“. Milanovich merkt an, dass ihr Mitgefühl tatsächlich selektiv sei. Sie behalte es denjenigen Frauen vor, die von der ungarischen Regierung kleingehalten und im Stich gelassen wurden.
„Mit Frauenthemen beschäftige ich mich nicht“, ist ein berühmt gewordener Satz von Ministerpräsident Orbán aus dem Jahr 2017. Seit dem Rücktritt von Justizministerin Varga wird das Kabinett des Regierungschefs nur von Männern besetzt. „In der ungarischen Öffentlichkeit wird wenig über diese Themen gesprochen“, erklärt Fanni Csernus, Beraterin für Gleichstellungsfragen bei Amnesty International Ungarn. Im Schnitt würden Frauen in Ungarn 17 bis 18 Prozent weniger verdienen als Männer. Statistiken zeigen, dass Frauen dabei öfter Ausbildungen abschließen, jedoch in schlechter bezahlten Jobs im Bildungs- und Sozialbereich arbeiten.
2020 verkündete die ungarische Regierung, die 2014 unterzeichnete Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen nicht zu ratifizieren. „Derzeit wird in Ungarn jede Woche eine Frau von ihrem Partner, Ex-Partner oder Missbraucher ermordet“, berichtet die ungarische Frauenrechtlerin Rita Antoni. Auch Frauenhäuser gebe es nicht genügend. Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention sei wichtig, um häuslicher Gewalt vorzubeugen, die Ursachen auszumachen und Kinder zu schützen.
Wie viel Magyar in Sachen Frauenrechte in Ungarn vorhat zu leisten, bleibt abzuwarten. Nach Bekanntwerden des Begnadigungsskandals und dem Aufstieg Magyars als Oppositionspolitiker hat die Fidesz-Regierung an Ansehen verloren. Dennoch führt die Partei von Premier Orbán weiter die Umfragen an und fährt gleichzeitig eine öffentliche Verleumdungskampagne gegen Magyar. „Péter Magyar ist gerade wie ein Rorschach-Test“, so Pottyondys Deutung. „Die Leute sehen in ihm, was sie sehen wollen, aushalten können oder wovor sie Angst haben.“
Die deutsch–ungarische Journalistin Lisa Erzsa WEIL lebt und arbeitet derzeit als Redakteurin in Berlin. Knapp zehn Jahre lang war sie in Budapest als freie Journalistin, Übersetzerin und Autorin tätig.