In Wien tötet eine mutmaßlicher Serientäter*in zwei obdachlose Personen, eine weitere überlebt knapp. Was macht das mit Menschen, die auf der Straße leben? Von Sophia Krauss und Brigitte Theißl
„Mein Freund und ich haben seit den Anschlägen Angst, auf der Straße zu schlafen“, sagt Jan1. Gemeinsam mit anderen Männern, die aus Polen und Rumänien nach Wien gekommen sind, sitzt er abends am Wiener Wallensteinplatz und erzählt vom Leben auf der Straße. Was Jan Angst macht, sind die jüngsten Angriffe auf drei obdachlose Personen in Wien, zweimal endeten sie tödlich. Mitte Juli wurde ein 56-jähriger Mann erstochen auf einer Parkbank am Handelskai aufgefunden. Rund eine Woche später überlebte eine 51-jährige obdachlose Frau ihre schweren Verletzungen nur knapp, sie war laut „Kurier“ in der Nähe des Pratersterns im Schlaf mit einem Messer angegriffen worden. Am 9. August schließlich erlag ein weiterer Mann trotz Notoperation seinen Verletzungen durch eine weitere Messerattacke. Aufgrund der Ähnlichkeiten geht die Polizei von einem Serientäter oder einer -täterin aus, konkrete Hinweise fehlen jedoch. Dass die Polizei bisher im Dunkeln tappt, macht Jan besonders Angst. Das erste Opfer der Mordserie habe er sogar persönlich gekannt. „Er hat mich gefragt, ob ich auch auf der Donauinsel schlafen will. Ich bin zum Glück am Wallensteinplatz geblieben. Am nächsten Tag habe ich erfahren, dass er gestorben ist“, sagt Jan.
Die Verunsicherung unter wohnungslosen Menschen, die in den Straßen der Hauptstadt leben, ist groß. Sofortmaßnahmen der Stadt Wien sollen vorübergehend Abhilfe schaffen. So wurden im August zusätzliche nächtliche Schutzräume im Tageszentrum Obdach Josi eröffnet. Die Schlafplätze der Caritas, wo Jan und sein Freund Aleksander2 früher bereits untergekommen sind, öffnen erst wieder am 1. November, sagt Jan. Im Sommer sei es schwierig, einen sicheren Platz zum Schlafen zu finden.
Klassistische Gewalt. Knapp 20.000 Menschen registriert die Statistik Austria für das Jahr 2021 in Österreich als obdachlos oder wohnungslos, rund sechzig Prozent davon leben in Wien. Die tatsächliche Zahl ist schwierig zu bestimmen, da es auch nicht registrierte obdachlose Menschen gibt. Ihre prekären Lebensbedingungen sorgen nur selten für Schlagzeilen – so wie jetzt, wenn es um ein mutmaßliches Serienverbrechen in der Stadt geht.
Dabei hat Gewalt gegen obdachlose Menschen System, sagt Sozialwissenschaftler Andreas Kemper. Klassismus, die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit, richtet sich speziell auch gegen Menschen, die auf der Straße leben oder keinen festen Wohnsitz haben. „In Deutschland werden jedes Jahr Wohnungslose aus Hass gegen Wohnungslose ermordet“, sagt Kemper. Die deutsche Polizei führe daher schon seit Jahren eine eigene Opfer-Kategorie „Obdachlose” in der Statistik zu politisch motivierter Kriminalität. Verbände, die solidarisch mit Wohnungslosen arbeiten, gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. In Österreich wies der Lagebericht Hate Crime 2022 den sozialen Status als eines von neun Vorurteilsmotiven aus, auch Wohnungslosigkeit umfasst diese Kategorie. Vierzig strafbare Handlungen gegen Leib und Leben verzeichnet der Bericht, die sich gegen den sozialen Status einer Person richten, zwanzig davon haben Wohnungslose betroffen.
Die Ausgrenzung von Menschen, die in der Stadt nicht erwünscht sind, hat indes eine lange Geschichte. So spielt die Verfolgung von obdachlosen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus eine oft unterschlagene Rolle: Im Jahr 1938 verdoppelte sich die Zahl der KZ-Häftlinge durch die Festnahme von mehr als zehntausend „asozialen“ Männern in Nazi-Deutschland, schreibt Wolfgang Ayaß im Magazin „Wohnungslos“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. Darunter fielen neben Roma und Sinti, Bettler, Landstreicher und mittellose Suchtkranke. Sie alle einte, dass sie im Dritten Reich als „arbeitsscheu“ klassifiziert wurden.
Auch heute sind wohnungslose Menschen immer wieder Thema stadtpolitischer Auseinandersetzungen. So formieren sich Bürger*inneninitiativen, die sich gegen Zentren für Suchtkranke wehren oder Sexarbeiter*innen aus Innenstadtvierteln vertreiben wollen. Initiativen, die von rechten und konservativen Politiker*innen gerne befeuert werden. Auch obdachlose Menschen passen nicht ins Bild einer „geordneten“, einer „sauberen“ Stadt. Erst im Juli veröffentlichte die Wiener Volkspartei ein Video, das Obdachlose auf der Mariahilfer Straße zum Thema macht. Seit Monaten zieht Landesparteiobmann Karl Mahrer im Rahmen einer Kampagne durch die Bezirke, um vermeintliche Wiener Brennpunkte sichtbar zu machen. So wie den Brunnenmarkt in Ottakring, wo „Syrer, Afghanen und Araber die Macht übernommen“ hätten. „Auf der beliebten Mariahilfer Straße fühlen sich die Menschen durch campierende Wohnungslose, meist aus dem EU-Ausland, unsicher“, heißt es in einem neueren Video. Gezeigt werden obdachlose Menschen, die vor Hauseingängen schlafen, untermalt von dramatischer Musik, Passant*innen beschweren sich über Schmutz, über „fremde Stimmen“ und „Bettelgruppen“.
Wohnraum umverteilen. Hetzkampagnen wie diese entwerfen das diffuse Zerrbild einer gefährlichen Gruppe, statt sich für konkrete Schicksale und Lebensbedingungen zu interessieren. Sie tragen weiter zur Stigmatisierung obdachloser Menschen und zur Verschiebung von Verantwortlichkeit bei. „So lange Menschen denken ‚Das geht mich nichts an‘ oder ‚Selber schuld‘ wird sich nichts ändern“, sagt Regina Amer. Amer war einst selbst von Wohnungslosigkeit betroffen und kämpft als Aktivistin und Gründerin von HOPE (Homeless in Europe) Austria für das Recht auf Wohnen. „Betroffene Personen sind eben nicht selbst schuld, es handelt sich um ein Versagen des ganzen Systems.“ Angesichts der aktuellen Lage müsse unter anderem dringend über eine Umverteilung von Wohnraum diskutiert werden, sagt Amer. „Es gibt Schätzungen, dass es in Wien zwischen 20.000 und 70.000 leere, nicht vermietete Gemeindewohnungen gibt. Man könnte diese Wohnungen freigeben und dort Menschen unterbringen.“ Steigende Mieten und Energiekosten seien dabei insbesondere für Frauen ein Problem. „Viele Frauen sind heute immer noch abhängig von Männern, da sie wesentlich weniger verdienen. Wenn der Wohnungsmarkt das nicht hergibt, können sie nicht einfach in eine günstigere Wohnung ziehen“, so Amer. Haben Menschen keine EU-Staatsbürger*innenschaft oder keine Ausweisdokumente, sind sie migrantisiert oder haben einen nicht-österreichischen Namen, erschwert dies den Zugang zum Wohnungsmarkt zusätzlich.
Solidarisch zeigen. Die Aktivistin Amer fordert politische Reformen, die das Menschenrecht auf Wohnraum ernst nehmen, aber sie fordert auch Privatpersonen auf, sich solidarisch zu zeigen. „Wenn Leute die Möglichkeit haben, sollten sie armutsbetroffenen oder wohnungslosen Personen eine Unterkunft geben. In Wien kann man nämlich zum Beispiel erst eine Gemeindewohnung beantragen, wenn man seit mindestens fünf Jahren in Wien gemeldet ist.“
Jan und Aleksander indes schlafen aktuell nur zu zweit auf der Straße, so fühlen sie sich sicherer. Gewalt hat Jan schon selbst erlebt. „Ich wurde schon einmal nachts in einer öffentlichen Toilette von einem Mann mit einem Messer bedroht. Viele Menschen waren dort, aber niemanden hat es interessiert.“ Auch Handys haben die beiden keine, die Polizei können sie nur über die Notfallnummer in Telefonzellen rufen, die es kaum noch gibt.
„Die Zivilgesellschaft muss sich solidarisch zeigen und mit den Betroffenen verbünden. Wir müssen zeigen: Wir stehen hinter euch!“, sagt Regina Amer. •
1 Name von der Redaktion geändert
2 Name von der Redaktion geändert
Brigitte Theißl ist leitende Redakteurin der an.schläge und empfiehlt allen, die finanziell gut aufgestellt sind, Geld an selbstorganisierte Gruppen von Wohnungslosen umzuverteilen.
Sophia Krauss wünscht sich von Leser*innen, die Privilegien im Hinblick auf die eigene Klassen-Zugehörigkeit zu checken, und einen solidarischen, respektvollen Umgang mit bettelnden und wohnungslosen Personen.