Spaniens Krise ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Nach dem Kampf um Bildung und Arbeit geht es jetzt um ein würdiges Dach über dem Kopf. Von MIRJAM BROMUNDT
„Ich will keine Millionen, nur meine Rechnungen bezahlen und in Ruhe leben können“, sagt Rosa* aus Terrassa. Die 53-Jährige musste wegen der Finanzkrise ihr Geschäft schließen, den Angestellten ihre Abfertigungen ausbezahlen und dafür zum bestehenden Wohnungskredit einen zweiten aufnehmen. Zunächst als Putzfrau, dann als Arbeitslose konnte Rosa die Raten der Bank bald nicht mehr bezahlen, die schließlich ihre Wohnung zur Versteigerung freigab. Arbeitslos, überschuldet und aus ihrer Wohnung vertrieben, geht es Rosa wie derzeit vielen Spanier_innen.
Bergauf. Bereits 1997 beginnt der Immobilienboom Spaniens, der zehn Jahre später für die aktuelle Situation verantwortlich sein wird. Der Wohnbau war ein wesentlicher Motor der spanischen Wirtschaft, schuf Arbeitsplätze und war so die Lebensgrundlage vieler Menschen, die mit ihrer Kaufkraft wiederum indirekt Arbeitsplätze sicherten. Große Flächen wurden mithilfe der Politik in Bauland umgewidmet, riesige Wohnkomplexe errichtet – oft fernab von städtischer Infrastruktur oder an für Tourist_innen attraktiven Standorten. Wurden 2001 370.000 Wohnungen gebaut und zu 990 Euro pro Quadratmeter verkauft, waren es 2007 790.000 neue Immobilien zu einem Quadratmeterpreis von über 2.000 Euro. Die Immobilienblase war an ihrem Höhepunkt angelangt, die Bauindustrie längst nicht mehr an den Wohnbedürfnissen der Spanier_innen, sondern an Investitionsobjekten interessiert und produzierte mit 13,7 Prozent einen Wohnungsleerstand wie sonst nirgends in Europa.
Kaufen statt Mieten. Rund 87 Prozent aller spanischen Wohnungen sind Eigentum, nur 13 Prozent werden vermietet. 1950 gab es noch mehr als die Hälfte der Wohnungen zur Miete, seither wurden die Interessen der Wirtschaft und des Staates über jene der Bevölkerung gestellt: Der Zugang zu Mietwohnungen wurde erschwert, Eigentumswohnungen propagiert und deren Erwerb durch leicht gewährte Kredite auch für Einkommensschwächere zugänglich. „In der Bank sagten sie mir, dass ich meine Wohnung immer verkaufen könne, wenn ich die Raten nicht bezahlen könne. Eine Wohnung im Zentrum von Barcelona würde in ihrem Wert nie fallen“, erzählt Mercedes*. Die 56-Jährige kaufte ihre Wohnung 2001. Wie Rosa musste auch Mercedes wegen der Krise ihr Modegeschäft schließen, und die Raten für die Bank überstiegen bald ihre Möglichkeiten. Eine_n Käufer_in für ihre Wohnung zu finden, war zu dem Zeitpunkt wegen des großen Angebots unmöglich.
Dubiose Klauseln in den Kreditverträgen trugen nicht selten zu einer Verdreifachung der Raten bei, und auch für sozioökonomisch schlechtergestellte Menschen fanden die Banken eine Lösung: avales cruzados (gekreuzte Bürg_innen). Dabei bürgen nicht nur wie im Großteil der Fälle Familienmitglieder füreinander, sondern auch Unbekannte für Unbekannte – vermittelt durch die Bank oder Immobilienagenturen. Zunächst glücklich über die Möglichkeit, überhaupt eine Wohnung kaufen zu können, muss später aber auch den Pflichten als Bürg_in nach-gekommen werden, sollte die andere Partei zahlungsunfähig sein.
Bergab. Der unnachhaltige Bau von Wohnungen kollabierte schließlich 2007 und brachte die Schließung der meisten Bauunternehmen mit sich. Dazu kam die steigende Inflation und ein marodes Banksystem. Fast jede_r in Spanien kennt aus dem eigenen Umfeld eine Geschichte ähnlich jener von Rosa oder Mercedes. Anfangs ging es um die steigende Arbeitslosigkeit (2007 lag sie bei 8,3, 2013 bei 27,16 Prozent), bald um das Wohnungsproblem, weil Mieten oder Kreditraten nicht mehr bezahlt werden konnten. „Ich wollte mir das Leben nehmen“, sagt Rosa, die mit der Situation nicht mehr fertig wurde. Die physische wie psychische Belastung aufgrund der Wohnsituation bemerkt auch Caritas Barcelona, die 2013 mit 5,3 Millionen Personen wie Rosa unterstützte.
Doch nicht alle suchen Hilfe. „Ich hatte mich von der Welt isoliert“, sagt Mercedes, so wie viele Spanier_innen, denen ihre Situation als säumige_r Zahler_in peinlich ist und die nicht mehr weiter wissen. Mehr als hundert Selbstmorde sollen bisher direkt mit drohenden Zwangsräumungen in Zusammenhang stehen. „Ihre“ Wohnung zu okkupieren, ist oft die einzige Möglichkeit für die Betroffenen. So auch für Rosa, die mit ihrem Mann kurzfristig bei ihrer Tochter untergekommen war. Eines Nachts fuhren sie zur alten Wohnung, die nach der Zwangsräumung leer stand. Sie tauschten das Schloss, die Nachbar_innen übernahmen ihre Betriebskosten und verhalfen dem Ehepaar zu ihrem Dach über dem Kopf. „Zwei Mal kam die Bank schon und wollte mir die Wohnung nehmen“, sagt Rosa und hat Angst vor dem nächsten Mal.
PAH. Die „Plataforma de Afectados por la Hipoteca“ ist eine 2009 gegründete parteiunabhängige Bürger_inneninitiative, die vorwiegend von Enteignung bedrohte Betroffene der Krise unterstützt. Die Organisation berät in ganz Spanien kostenlos Hilfesuchende, die sich auch gegenseitig beim Verhindern von Delogierungen oder Verhandeln mit den Banken unter die Arme greifen. So wurden bereits 936 (1) Delogierungen verhindert und vielen Menschen mit ihrem Slogan „¡Sí se puede!“ („Ja, man kann!“) Mut gemacht. Über die Zahl der Delogierungen von Personen aus Wohnimmobilien wird derzeit eine Studie durchgeführt, der Verband der Grundbuch- und Handelsregisterführer_innen spricht allerdings von 65.800 eingeleiteten Zwangsversteigerungsverfahren 2012, wobei etwa 75 Prozent auf Hauptwohnsitze entfallen.
„Sechs Monate verhandelten wir mit der Bank und machten mit Aktionen Druck“, sagt Rosa, „sie wollte die Schlüssel zur Wohnung, mir die Restschuld aber nicht erlassen.“ Derzeit darf sich die Bank eine Wohnung für sechzig Prozent des ursprünglichen Wertes einbehalten, auf den restlichen Schulden bleibt man aber weiterhin sitzen – in Rosas Fall 129.000 Euro. 2012 wurde von der Partido Popular (PP) der „Código de Buenas prácticas“ eingeführt, der zwar für Familien mit „Risiko der sozialen Exklusion“ eine Möglichkeit des Restschuldenerlasses einräumt und vorsieht, mehr Mietwohnungen für delogierte Personen zur Verfügung zu stellen. Allerdings blieb die Ursachenbekämpfung aus, und rund ein Drittel der kritischen Fälle wurden von der Regelung ausgeschlossen. Für zwei weitere Maßnahmen wurde die Regierung wegen missbräuchlicher Klauseln in Kreditverträgen schon zweimal vom Europäischen Gerichtshof verurteilt. Nach wie vor ist das Geschäft mit Immobilien für Investor_innen aus dem Ausland interessant, wobei auch nahe Verwandte von Politiker_innen als Berater_innen fungieren. So werden Madrider Sozialbauten derzeit von der Stadt günstig an Goldman Sachs verkauft, die sich von den Mieten der ökonomisch schwachen Bewohner_innen Profite erhoffen. Faule Kredite hingegen verschieben die Banken in die eigens gegründete spanische Bad Bank SAREB, die sich wiederum um deren Weiterverkauf – beispielsweise an die Deutsche Bank – kümmert. Dass die eigene Wohnung oder der Kredit also plötzlich den_die Eigentümer_in wechselt, merken die Bewohner_innen erst hinterher.
Druck von unten. In Form einer Volkspetition versucht die PAH nun ihre Forderungen nach einer gesetzlichen Implementierung des in der spanischen Verfassung sowie in der Menschenrechtserklärung verankerten Grundrechts auf würdevollen und angemessenen Wohnraum durchzubringen. Zwei Jahre wurde die Organisation für den Start der Petition hingehalten – vor den Wahlen 2011 war den Regierungs- und Oppositionsparteien das Thema noch zu heikel. Innerhalb von neun Monaten wurden 1,4 Millionen Unterschriften gesammelt, das sind 900.000 mehr als für eine Bearbeitung im Parlament notwendig wären. Die Eckpunkte: Die Möglichkeit des Restschuldenerlasses auch rückwirkend auf Hauptwohnsitze, ein Aussetzen der Delogierungen (wie beispielsweise in Griechenland) und das Einrichten einer Sozialmiete, die Personen fünf Jahre lang für dreißig Prozent des Haushaltseinkommens in ihren Wohnungen bleiben lässt – wie es ähnlich die Autonome Gemeinschaft Andalusien zum Unmut von Regierung und EU für ihre Region eingeführt hat. Als Druckmittel für die Durchsetzung des Gesetzes organisiert die PAH sogenannte „escraches“(2) vor den Wohnungen jener PP-Politiker_innen, die derzeit gegen das Gesetz auftreten. Als Antwort der Regierung könnte das kürzlich verschärfte Demonstrationsrecht gesehen werden. Und auch das kürzlich in Madrid erlassene (und mit 750 Euro geahndete) Verbot von Schlafen auf der Straße ist angesichts der großen Zahl an Delogierungen ein eindeutiges Signal. Rosa kämpft mit der PAH weiterhin um das Recht, als Sozialmieterin in ihrer Wohnung bleiben zu dürfen, Mercedes gelang es mit der PAH, einen Restschuldenerlass zu erwirken. Es gibt auch erste strategische Erfolge. So mussten drei Banken in Terrassa im Jänner erstmals eine – zwar kleine – Strafe von 5.000 Euro für ihre leerstehenden Immobilien zahlen, und obwohl die Gesetze noch nicht geändert sind, lassen Banken mittlerweile mit sich reden. An ihr „¡Sí se puede!“ hat die PAH derzeit noch den Zusatz „Pero no quieren“ („Aber sie wollen nicht“) gehängt – eine Anspielung auf Abgeordnete, die die Situation anders einschätzen. Hoffentlich ist sie bald nicht mehr nötig.
Mirjam Bromundt ist freie Journalistin und Filmvorführerin und hat lange Zeit in Spanien gelebt.
*Alle Interviews führte PAH im Rahmen der Veröffentlichung „Emergencia habitacional en el estado español“
Fußnoten:
(1) Stand 11. Jänner 2013
(2) ein eigens dafür erfundenes Wort für diese Art von Protest