Wohlfühl-Castingshows und Dokus über Pflegekräfte: Das Privatfernsehen läutet das langsame Sterben der TV-Demütigungsformate ein. Wird die Entwicklung nachhaltig sein? Von Nadia Shehadeh
Die deutschsprachige TV-Landschaft – vor allem der privaten Sender – verwechselte lange Zeit Menschenfeindlichkeit mit guter Unterhaltung: Castingshows, die statt auf Talent auf die Demütigung von Kandidat_innen setzten. Klassistische Familien- und Frauentausch-Formate, die auf Kosten von Deklassierten – und deren Kindern – jahrelang Top-Quoten erzielten. Comedians, die anscheinend nicht nur auf der Bühne, sondern wahrscheinlich auch in ihren privaten Beziehungen ekelhaft sexistisch und frauenfeindlich waren.
Doch nun zeichnet sich ein Umbruch ab: Etablierte Publikumsgaranten sorgten zuletzt wiederholt für Schlagzeilen und heftige Debatten, nicht nur die Zuschauer_innen begehren durch konsequentes Abschalten auf. In einem aufsehenerregenden Instagram-Post prangerte der deutsche Sänger und Unternehmer Ikke Hüftgold die menschenverachtenden Zustände der Sat.1-Produktion „Plötzlich arm, plötzlich reich“ an – die Realityshow wurde letztendlich sogar abgesetzt. Doch meinen es die TV-Sender wirklich ernst, wenn sie problematische Formate und Figuren in ihren Sendungen ersetzen oder gar aus dem Programm streichen? Oder handelt es sich nur um kosmetische Maßnahmen?
Ausbeutungs-TV. „Ich verstoße hiermit gegen eine Vertragsklausel, die mich unter Androhung einer Geldstrafe zum Schweigen zwingt. Diese Klauseln sind bei Produktionsverträgen üblich, damit u. a. so etwas wie heute nicht an die Öffentlichkeit gelangt“, schloss Ikke Hüftgold Ende Mai sein wort- und beinahe auch tränenreiches Video-Statement auf Instagram ab. Hüftgold rechnete harsch mit Sat.1 und einer für den Sender tätigen Produktionsfirma ab und schilderte detailliert, wie eine sozial benachteiligte Familie mit anscheinend schwer traumatisierten Kindern für ein bekanntes Unterhaltungsformat eingespannt werden sollte. Was er auf den Tisch legt, wiegt schwer: Gefährdung von Kindeswohl, Ausbeutung von Kindern (Dreharbeiten mit zehn Stunden Arbeitszeit auch für sie pro Tag), Missachtung der seelischen Gesundheit aller Teilnehmenden. Kurz: Aus menschlichem Elend werde nur Kapital geschlagen, die Folgen für die Beteiligten seien komplett egal, nur die Quote zähle. Das Video ist glaubwürdig, die Empathie und die Empörung sind echt. Allein man fragt sich: Warum hat es nach all den Jahren Elendsfernsehen, an dem immer wieder Stars und Sternchen beteiligt waren, so lange gedauert, bis jemand mit Rang und Namen endlich rebelliert?
Zumal das Statement von Hüftgold zu untermauern scheint, was derartige Formate lange vermuten ließen: dass sie weder respekt- noch rücksichtsvoll sind, sondern voyeuristisch Vorurteile bedienen und die Diskriminierung von Menschen ökonomisch und ideologisch ausbeuten. Schließlich operieren Produktionsfirmen mit einer ganzen Apparatur bildungsbürgerlicher Kreativer, die sich diese Formate des „Trash-TV“ nicht nur ausdenken, sondern auch mit entsprechenden Teilnehmer_innen befüllen. Insbesondere Mütter werden als vermeintlich faul und verantwortungslos vorgeführt, haarklein inspiziert die Fernsehkamera den Kühlschrankinhalt oder zoomt auf die Zigarettenpackung auf dem Wohnzimmertisch. Wenn Bessergestellte Zivilisation und Ordnung in schäbige Verhältnisse bringen, während „die Armen“ aufblühen und ein bisschen dazulernen, nachdem sie die Luft des „besseren Lebens“ geschnuppert haben, ist das die neoliberale Moral von der Geschichte: nämlich dass die Armen unfähig und die Wohlhabenden kompetent und inspirierend sind.
Missverstanden. Nach ähnlichem Vorbild operierten viele der vermeintlichen Talentshows, die sich in weiten Teilen der Sendung nicht nur auf das Können von Bewerber_innen konzentrierten, sondern viel zu oft menschliche Tragödien zwischen Singsang und Vorsprechen fokussierten. So war es das Markenzeichen von „Deutschland sucht den Superstar“ („DSDS“) mit Dieter Bohlen an der Spitze, mit den Träumen der eher Talentfreien zu spielen, um sie als Witzfiguren zur besten Sendezeit bloßzustellen. Menderes Bağcı, der mit seinem schrägen Gesang und unbeholfenen Auftritten jahrelang immer wieder zum Vorsingen gebeten wurde, mutierte am Ende zwar zu einem Prominenten (später sogar Dschungelkönig in „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“), konnte aber bis heute nicht raus aus der tragischen Rolle des Königs der Verlierer – auch wenn er mit seiner Beharrlichkeit und seiner zwischenzeitlich immens großen Fangemeinde bewies, dass er durchaus solide Entertainerqualitäten hat.
Bohlen, der für seine widerwärtigen und wiederholt sexistischen Sprüche in den „DSDS“-Castings tatsächlich von vielen als ehrlicher Juror mit Humor und Herz missverstanden wurde, ist mittlerweile nicht mehr Teil der „DSDS“-Jury. Auch dieser Entschluss wird als Zeichen dafür gehandelt, dass das Publikum keinen Bock mehr auf das klassische Demütigungsfernsehen habe. Schließlich schwanden in den letzten Jahren nicht nur die Quoten, sondern auch die Zahlen der Plattenverkäufe der Stars der Sendung, die immer mehr wie Beiwerk neben den anderen menschlichen Dramödien wirkten. Bei RTL wurde nicht nur die „DSDS“-Jury, sondern auch in der Führungsetage umgebaut, Unterhaltungschef Kai Sturm kündigte „Veränderung und Weiterentwicklung“ an. Ebenso wie Konkurrent ProSieben will der Sender zudem künftig den News-Bereich ausbauen.
Neue Zeiten. Stattdessen preschten Formate vor, die wie Vorboten eines neuen, frischen und vor allem herrlich harmlosen Zeitalters der TV-Unterhaltung anmuten: „Das große Backen“ etwa, in dem die Juror_innen mit Lob und wertschätzenden Worten nicht hinterm Berg halten und zudem die Wettbewerbsteilnehmer_innen erfrischend divers gecastet werden. Eine der Finalist_innen der letzten Staffel etwa trug Hijab, und ihre Art, „halal“ (also etwa ohne Gelatine) zu backen, wurde in keiner Folge durch den Kakao gezogen, sondern einfach respektiert. Die beiden Hauptabend-Stars Joko und Klaas wiederum sorgten Anfang April für ein gewaltiges Medien-Echo, als sie für ProSieben stundenlang die Schicht einer Pflegekraft aus Münster dokumentierten. Als „großes Ausrufezeichen zum Thema Pflegenotstand“ wurde das siebenstündige Special geadelt – selbst der TV-Sender Arte kommentierte diesen Coup mit „standing ovations“.
Feststeht: Zumindest teilweise wandelt sich die Fernsehlandschaft zum Besseren – auch weil Zuschauer_innen mehr Streaming-Alternativen und Kritik auf Social Media einen völlig neuen Impact haben. Das Anklage-Video von Ikke Hüftgold wurde auf Instagram inzwischen mehr als sieben Millionen Mal abgerufen – eine Quote, von der manch ein Sender nur träumen kann. Hüftgold wird geahnt haben, dass Sat.1 sich bei dieser Strahlkraft mit strafrechtlichen Konsequenzen eher zurückhalten wird, um weitere Shitstorms zu vermeiden.
Ein Selbstläufer ist die Entwicklung dennoch keineswegs – gerade öffentlich-rechtliche Sender fielen zuletzt durch gegenläufige Entscheidungen auf. Mehr Sendezeit trotz harscher Kritik an ihren rassistischen, antisemitischen und sexistischen Witzen etwa bekam die umstrittene Comedienne Lisa Eckhart – da Kolleg_innen mit eigenen Fernsehformaten die große „Cancel Culture“ witterten, gegen die es sich zu wehren galt. Und da waren weitere absurde Formate, die mit Recht harsch kritisiert wurden: etwa die WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“, in der fünf weiße Prominente (u. a. Thomas Gottschalk und Big-Brother-Urgestein Jürgen Milski) sich bräsig fragten, „was man denn überhaupt noch sagen darf“. Spoiler: Sie sagten alles, von N-Wort bis Z-Wort, und wunderten sich dann über den Shitstorm im Anschluss. Und dennoch: Dass gerade Formate, die auf Respekt und Wohlfühlatmosphäre setzen, bei einem jungen Publikum punkten, gibt Anlass zur Hoffnung. Die Tage für Typen der Marke Dieter Bohlen könnten endgültig angezählt sein.
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Bloggerin, schreibt seit Jahren zu den Themenschwerpunkten Pop, Feminismus und Rassismus – und schaut gerne Fernsehen.