Im Machtkampf um die Flüchtlingspolitik wird die deutsche Bundeskanzlerin mit typisch weiblichen Eigenschaften versehen. Von ANJA KRÜGER
Möglicherweise wird es solche Hinweise nicht mehr lange geben: Wenn nach Deutschland gekommene männliche Flüchtlinge Frauen nicht respektierten, sollten sie nachdrücklich auf Bundeskanzlerin Angela Merkel hingewiesen werden, empfahl der deutsche Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU). Wer sich von Frauen nichts sagen lasse, den müsse man nur zum Nachdenken über die Kanzlerin anregen, forderte er.
Ihr Kanzleramtsminister gab diese Empfehlung ausgerechnet in den Tagen ab, in denen Angela Merkel in den eigenen Reihen um Autorität und Respekt kämpft. Die Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik wird immer schärfer. Innenpolitisch ist sie isoliert wie nie zuvor in ihrer mehr als zehnjährigen Amtszeit. Außenpolitisch verliert sie wichtige Verbündete, nachdem die österreichische Regierung eine Obergrenze für Geflohene eingeführt hat und Frankreich sich gegen Kontingente ausspricht. Ihre Popularität lässt nach. „Merkel im Umfragetief – Kriegt sie noch die Kurve?“, fragen sich Talkshowgäste im deutschen Fernsehen. „Merkels Zeit läuft ab“, schreibt der „Stern“, das „Handelsblatt nennt sie „Die Angezählte“.
Keine Obergrenze. Spätestens nach Bekanntwerden der Übergriffe auf Frauen auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz in der Silvesternacht, die mutmaßlich von Migranten ausgegangen sind, hat sich die viel beschworene Willkommenskultur in Deutschland in ein tiefes Misstrauen gegen Geflohene verwandelt. Merkel bleibt bei ihrem Kurs der offenen deutschen Grenzen, während viele in und außerhalb der Union lautstark eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik verlangen. Die Spitze der CSU, aber auch Teile der CDU fordern Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Merkel lehnt das ab. Eine Obergrenze würde bedeuten, dass ab dem definierten Punkt die Grenzen geschlossen werden müssen – das könnte das Ende des Schengener Abkommens bedeuten, das die offenen Binnengrenzen in den unterzeichnenden europäischen Staaten vorsieht. Das will Merkel nicht riskieren. „Viele sagen mir in diesen Tagen immer: Es gab auch ein Leben vor Schengen“, entgegnete sie ihren KritikerInnen. „Und ich antworte dann: Ich weiß, es gab auch ein Leben vor der Deutschen Einheit. Da waren die Grenzen noch besser geschützt.“
Dabei ist Merkel keineswegs grundsätzlich gegen Abschottung. Aber es sollen die europäischen Außengrenzen sein, die geschlossen werden – wie es das Schengener Abkommen vorsieht. Ihre Marschroute war und ist klar: Sie will die europäischen Außengrenzen abschotten und arbeitet deshalb eng mit der Türkei zusammen. Und sie setzt auf eine innereuropäische Lösung und will Flüchtlinge mithilfe von Kontingenten in der EU verteilen.
Doch das dauert – vielen in Deutschland zu lange. Das Verhältnis zwischen Merkel und dem bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ist tief zerrüttet. Beim CSU-Parteitag hat Seehofer Merkel öffentlich gedemütigt, als er sie nach ihrer Rede auf offener Bühne maßregelte, weil sie sich nicht zu Obergrenzen geäußert hatte. Nicht nur von RechtspopulistInnen und Unions-PolitikerInnen, sondern bis über die politische Mitte hinaus wird Merkel persönlich vorgeworfen, für die Flüchtlingskrise in Deutschland verantwortlich zu sein. Sie habe mit „Willkommensgesten“ Geflohene geradezu aufgefordert, in die Bundesrepublik zu kommen, heißt es immer wieder. Als solche interpretiert wird vor allem ihr berühmter Satz „Wir schaffen das!“ aus dem Sommer vergangenen Jahres. Weitgehend vergessen ist, dass die Kanzlerin wenige Wochen vorher einem geduldeten, von der Abschiebung bedrohten palästinensischen Mädchen erklärt hatte, Deutschland könne nun mal nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.
Aber Abschiebungen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Merkel diese Meinung bis heute geändert hat – auch wenn viele derjenigen, die in Deutschland für eine offene Flüchtlingspolitik stehen, das glauben. Merkel will nicht, dass weitere Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sie will auch nicht, dass die Gekommenen bleiben. „Wir erwarten, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass ihr auch wieder, mit dem Wissen, was ihr jetzt bei uns bekommen habt, in eure Heimat zurückgeht“, sagte sie kürzlich beim Landesparteitag der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Sie hat das Asylrecht und ihren Ton gegenüber Geflohenen massiv verschärft. Sie fordert rasche Abschiebungen, allerdings in einem moderateren Ton als CSU-Politiker: „Um denen Schutz zu geben, die Schutz brauchen, müssen andere in einem rechtsstaatlichen Verfahren dann auch wieder unser Land verlassen.“
Mit tiefer Tonlage. Merkel steht in der Flüchtlingspolitik nicht deshalb unter Beschuss, weil sie eine Frau ist. Aber die Art und Weise, wie Kritik an ihr geübt wird, hat viel damit zu tun. Frauen in der Politik kämpfen mit dem Vorurteil, dass sie emotional agieren – und deshalb in den Augen vieler Männer als ungeeignet für politische Ämter gelten. Merkel, die als junge Frau in der DDR Simone de Beauvoir gelesen hat, weiß das. Sie inszeniert sich als sachlich, kühl, emotionslos, unprätentiös und achtet stets darauf, mit tiefer Tonlage zu sprechen, damit ihre Stimme nicht schrill wirkt. Sie wurde verspottet als „das Merkel“, gleichzeitig wurden ihr Auftreten, ihre Frisur und ihre Kleidung hämisch kommentiert. Das nahm mit ihrer wachsenden Macht ab.
Jetzt, in der Flüchtlingskrise, sind die verborgenen sexistischen Muster wieder da. „Politiker dürfen sich nicht nur von Emotionen leiten lassen“, sagte etwa Hans-Peter Friedrich (CSU) mit Blick auf Merkels Flüchtlingspolitik. Er spricht ihr also ab, überhaupt einer Strategie zu folgen – statt ihre vorhandene Strategie infrage zu stellen. Klassischer geht es kaum: Es ist das uralte Ressentiment von der gefühlsduseligen Frau, der Mythos des von Emotionen gelenkten Weiblichen, das sich hier Bahn bricht. Nicht nur in der Union: Merkels Flüchtlingspolitik folge „dem nicht gering zu schätzenden Prinzip von Glaube, Liebe, Hoffnung“, findet der ehemalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück.
Naiv und emotional. Auch in der internationalen Presse hat sich der Blick auf Merkel verändert. „Es war immer klar, dass die Willkommenspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel naiv war“, schrieb „The Sunday Times“ aus Großbritannien nach den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht. Ein Kolumnist der „New York Times“ forderte gar ihren Rücktritt. In Deutschland ist man noch nicht so weit. Aber auch dort wird Merkel anders bewertet als früher. „Neuerdings redet die Kanzlerin über Gefühle“, behauptete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Gleichzeitig wird Merkel Autoritätsverlust in den eigenen Reihen attestiert. „Einem Machtpolitiker wie Helmut Kohl wäre das in der Union auch nicht passiert, wenn diese innerparteilichen Kritiker noch eine politische Zukunft haben wollten“, schreibt die Zeitung – als hätte Merkel nicht mit dem Abräumen ihrer Widersacher in der Union von Friedrich Merz über Norbert Röttgen bis zu Edmund Stoiber Durchsetzungsfähigkeit bewiesen. Auch an der Politik von Merkels Vorgängern Helmut Kohl und Gerhard Schröder gab es zu deren Amtszeit erhebliche Kritik. Aber mit einem völlig anderen Unterton. Helmut Kohl, verspottet als „Birne“ und tölpelhaft, wurde gleichwohl stets Machtinstinkt und kalte Berechnung attestiert, Gerhard Schröder ebenso. Bei Merkel geht es um Gefühle und Schwäche. Sie kann sich noch so genderneutral inszenieren, der sexistische Blick bleibt: Als sie Anfang der 1990er-Jahre am Kabinettstisch Platz nahm, war sie „Kohls Mädchen“. Inzwischen nennen sie auch viele in der Unionsfraktion „Mutti“. Da schwingt kein Respekt mit, sondern Abwertung.
An Deutschlands Stammtischen und in den Kommentarspalten wird gerne behauptet, Merkel mache sozialdemokratische Politik – auch das ist eine sexistische Verkennung ihrer Strategie. Sie ist eine Konservative mit neoliberalen Einschlägen und überlegt pragmatisch, was sie wann durchsetzten kann. Sie hat höchst unerfreuliche Ziele wie Privatisierungen, Sozialabbau oder Einheitssteuersatz. Merkel hat jedoch im Wahlkampf 2005 erlebt, dass allzu offene Bekenntnisse schaden. Also verzichtet sie darauf, ohne ihre Ziele aus den Augen zu verlieren. Sie kann warten. Das könnte ihr jetzt zum Verhängnis werden. Denn ihre GegnerInnen wollen ihr keine Zeit lassen.
Anja Krüger ist Journalistin in Berlin und arbeitet für die Tageszeitung „taz“.