Gewalt gegen Frauen* hat System. Christina Clemm, eine auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisierte Rechtsanwältin, weiß das. Sie rollt in ihrem Buch ausgewählte Fälle chronologisch auf und macht dabei all die Herrschaftssysteme sichtbar, die der Nährboden für die Gewalt sind. Von Gabi Horak
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, über Gewalt an Frauen zu berichten. Die einen schreiben einen Roman, andere eine empathische Reportage. Christina Clemm gibt ganz nüchtern Einsicht in Akten, die realen Gerichtsfällen nachempfunden sind. Das klingt unspektakulär, ist aber das Kraftvollste zum Thema, das ich seit langer Zeit gelesen habe.
Christina Clemm ist Anwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin, verteidigt Opfer sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie möchte mit ihrem Buch „den Blick auf die betroffenen Frauen lenken, ihre Schicksale und ihren Kampf. Es soll Anstoß geben, endlich gesamtgesellschaftlich das Massenphänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen“. Der Blick auf die Frauen, besonders ihren Kampf gegen ein System von Retraumatisierung und Diskriminierung, ist eindringlich. Chronologisch schreibt Clemm einzelne Ereignisse nieder. Dazwischen immer wieder eingefügte Passagen, die mit „Fakten lügen nicht“ betitelt werden könnten: Erläuterungen zur Rechtssprechung in Deutschland, ein Aufräumen mit Mythen, das Anführen von Statistiken und Zahlen, die deutlich machen, dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht auf Einzelfälle reduziert werden kann. Vielmehr sind die Geschichten der Frauen allzu deutliche Illustrationen einer gewaltvollen Gesellschaftsstruktur, die Gewalt ist systemimmanent.
Macht und Gewalt vor Gericht. Die Akten sind vielfältig, die Frauen wie auch ihre Geschichten. Das reicht von sexuellem Sadismus in der Ehe über rassistische Polizeigewalt bis zur Einschüchterung von Abtreibungsgegner*innen. Auch das macht die „AktenEinsicht“ zu einem so wichtigen Buch, denn es zeigt: Gewalt an Frauen ist kein Randthema, sondern es zieht sich quer durch alle Gesellschaftsgruppen. Auch das Cover, auf dem unzählige, diverse Frauenköpfe skizziert sind, macht das symbolisch sichtbar. Die Fälle haben eines gemeinsam: In hierarchisch organisierten Gesellschaften gehen Macht und Gewaltanwendung Hand in Hand.
Und diese Macht-Gewalt-Spirale endet keineswegs im familiären Bereich, sondern zieht sich bis vor das „unabhängige“ Gericht. Hier bieten die Akten besonders viel „Einsicht“ in Realitäten, die sonst oft verborgen bleiben. Das Ausmaß an Voreingenommenheit, Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit und blankem Frauenhass, das sich hier exemplarisch zeigt, ist eigentlich unerträglich. Das hat Auswirkungen, denn die wenigsten wagen es, Anzeige zu erstatten und vor Gericht zu ziehen. „Zu groß ist die Angst, während des Verfahrens unter die Räder zu kommen und am Ende die Hilflosigkeit zu erfahren, die schon während der Tat(en) so schmerzhaft war.“ Es geht also nicht nur darum, die Täter*innen für ihre Taten zu bestrafen. Es geht besonders auch darum, das System geschlechtsspezifischer Gewalt zu beenden.
Deshalb sei explizit auch die – über dieses Buch hinausgehende – Arbeit von Christina Clemm erwähnt. Ihr Engagement kann etwa auf Twitter (@barbaraclemm) verfolgt werden.
Diese AktenEinsichten bieten einen Blick auf die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Großartige Bücher wie dieses können helfen, das Eis endlich zu brechen.
Christina Clemm: AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt. Verlag Antje Kunstmann 2020, 20,60 Euro