Über Geschlechtskonstruktion, die Kluft zwischen den Generationen und den Anspruch der feministischen Revolution sprach MARLENE RADL mit der Soziologin und Philosophin FRIGGA HAUG.
Frigga Haug war Mitorganisatorin des Internationalen Kongress für Marxismus-Feminismus, der im März in der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin stattfand. Unter dem Titel „Die Kraft der Kritik“ sollten die historischen Fäden der marxistisch-feministischen Bewegung wieder aufgenommen und dem Projekt neuer Schwung verliehen werden.
an.schläge: Mit „The Unhappy Marriage of Marxism and Feminism“ betitelte Heidi Hartmann ihren 1981 erschienenen Essay, der eine folgenreiche Debatte zum Verhältnis der beiden Bewegungen einleitete. Warum begannen Feministinnen sich mit dem Marxismus auseinanderzusetzen? Und wieso gingen sie diese „Ehe“ trotz der vorhersehbaren Schwierigkeiten ein?
Frigga Haug: Heidi Hartmann sprach aus der sozialistischen Frauenbewegung heraus. Diese wollte weder von der sozialistischen Arbeiterbewegung* noch von marxistischer Theorie Abschied nehmen, gleichzeitig jedoch, im allgemeinen Aufbruch der Frauenbewegung, den Protest der Frauen mittragen. Es ging um die Frage, ob und was die sozialistische Bewegung von der Frauenbewegung lernen kann und umgekehrt.
In dieser Diskussion hatte Hartmann eine Pionierinnenfunktion inne, einerseits durch diesen Slogan, aber auch durch die konkrete Benennung der analytischen Probleme rund um den marxistischen Arbeitsbegriff. Die Diskussion mündete darin, dass wir uns vielleicht besser trennen sollten, wenn die Arbeiterbewegung weiterhin die Frauen ignoriert oder gar bekämpft – also „not marriage but divorce“.
Viele Frauen führten lange Zeit ein politisches „Doppelleben“ und waren in der Arbeiter- und Frauenbewegung gleichzeitig aktiv. Was veranlasste Sie schließlich dazu, die inneren Zusammenhänge von Frauenunterdrückung und Kapitalismus zu untersuchen?
Die übrige Frauenbewegung war verglichen mit uns viel erfolgreicher, weil sie nicht die Bürde zu tragen hatte, immer gleichzeitig den Arbeiterkampf zu führen. Wir mussten immer beides zusammenführen und wurden dabei schizophren – „gespaltenes Bewusstsein“ nannten wir das damals.
Erst nach Jahren wurde uns klar, dass die Arbeit für die Arbeitenden auch geschlechtlich kodiert ist, und wir fragten uns immer tiefgehender, wie eigentlich die Reproduktion des Kapitalismus und die Frauenunterdrückung zusammenhängen. Wir begannen vom Standpunkt der Reproduktion des Kapitals aus zu denken. Das war unglaublich fruchtbar, denn wir sahen sofort die Geschlechterverhältnisse darin.
Daraus folgte die theoretische Einsicht, dass Geschlechterverhältnisse selbst als Produktionsverhältnisse zu begreifen sind. Was bedeuten diese Begriffe konkret und einfach erklärt?
Das ist ganz leicht: Die Produktionsverhältnisse regeln das Leben und seine Wiederherstellung. Diese Wiederherstellung von Leben braucht Mittel – soweit ist das noch keine Hierarchie. Die entsteht erst, wenn die Mittel zum Leben wichtiger werden als das Leben selbst, weil die Mittel Profit bringen. Die Produktion der Mittel kann profitabel organisiert werden. Aber die Frage, wie Menschen eigentlich leben und was ein gutes Leben ausmacht, wird dabei völlig nebensächlich. Philosophisch nennt man das eine Mittel-Zweck-Verkehrung, weil die Mittel zu produzieren die Hauptsache geworden ist.
Die Frauenbewegung und die direkten Aktionen auf den Straßen flauten in den 1980ern immer mehr ab. Was wurde aus den sozialistischen Feministinnen?
Ich denke es gibt drei Hauptfaktoren für das Versickern der Frauenbewegung. Der erste Grund ist „Emma“, die mit Unterstützung von Banken, Kapital und Medien sowie einer Auflage von 200.000 Stück startete. Die zentrale Botschaft dabei war: Feminismus ist Männerhass! Das teilte natürlich die Frauen, weil Männerhass kein hegemoniales Bündnisfeld ist. Alice Schwarzer war vom ersten Tag an meine Feindin.
Zweitens: Die Krise des Fordismus und der Umbau der gesamten Produktionsweise leiteten den Aufstieg des Neoliberalismus ein, in dem es so scheint, als könnten alle selbstbestimmt tun, was sie wollen. Die Kleinfamilie als zentrales Kampffeld der Frauenbewegung wurde vom Neoliberalismus zerstört. Warum also den Alleinernährer abschaffen, wenn es sowieso keine lebenslänglichen Arbeitsplätze mehr gibt? Soweit es um diese Änderungen ging, nahm uns der Neoliberalismus unser Projekt.
Der dritte Grund war die Rolle des Staates. Dieser hatte die Aktivitäten der wachsenden Frauenbewegung unterstützt. Viele Frauen gingen in die Institutionen, als Ausdruck ihres feministischen Handelns. Dort konnten ihnen von einem Tag auf den anderen die Mittel gestrichen werden. Diese drei Faktoren waren maßgeblich am Verschwinden der Frauenbewegung beteiligt. Aber die marxistischen Feministinnen sind am ehesten geblieben, das sieht man ja an mir – ich glaube wegen der marxistischen Fundierung. Wir wollten, dass sich alle befreien.
Gleichzeitig mit diesem Abschwung kam es zu einer Verschiebung im akademischen Diskurs, in dem seit den 1990ern verstärkt Problematiken der Geschlechtskonstruktion in den Mittelpunkt feministischer Forschung rücken.
Ich nenne das die Akademisierung des Feminismus. Das hat mit den Menschen auf der Straße nichts mehr zu tun. Diese Forschung ist nicht mehr darauf ausgerichtet, dass die Menschen sie verstehen sollen – dass sie für alle sein soll. Ich glaube, es geht hier nur noch darum, originelle Vorschläge zu machen. Aber vielleicht ist das zu ungerecht.
Glauben Sie, dass konstruktivistischfeministische Theorien die Strukturierung von Geschlechterverhältnissen durch kapitalistische Produktionsverhältnisse ausklammern?
Das ist unterschiedlich. Einige Theorien brauchen das nicht und lassen Kapitalismus vollkommen raus. Aber z. B. Judith Butler hat selbst einen starken antikapitalistischen Impuls und versteht sich als Marxistin. Viele haben gesagt, sie sei der Tod des Marxismus oder wäre explizit angetreten, um den Marxismus zu zerstören. Das stimmt nicht. Sie versucht zu sagen, dass wir nicht mit Geschlecht als Grundkategorie anfangen sollen, wenn wir Gesellschaft verstehen wollen, weil diese Kategorie selbst Konstruktion ist. Es müsse an anderer Stelle angesetzt werden. Butlers Konzept greift bestimmt woanders ein als meines, aber ich kann gut mit ihr zusammenarbeiten. Dass jedoch „Frau“ eine Konstruktion ist, damit haben wir uns schon viel früher als diese konstruktivistischen Theorien beschäftigt.
Sehen Sie also keinen innerfeministischen Generationenkonflikt rund um diese Themen?
Es ist kein Konflikt, sondern eher ein Schweigen zwischen den Generationen. Ich beobachte eine „Nicht-Tradierung“ – als wären die Generationen auf verschiedenen Sternen geboren. Die Generationen wollten einfach nichts voneinander wissen. Aber ich glaube im Augenblick ändert sich das und davon bin ich sehr begeistert.
Der Kongress will „Marx feministisch beerben“. Was gibt es bei einer erneuten Rückbesinnung auf Marx noch zu gewinnen?
Beim Anspruch „zurück zu Marx“ stellt sich die Frage, was bisher von ihm geerbt worden ist. Und das ist die Analyse der kapitalistischen Produktion in Bezug auf die Arbeit darin. Doch damit ist Marx bei Weitem nicht erschöpft. Für die Fragen danach, wie sich diese Gesellschaft reproduziert und sich trotz aller entsetzlichen Krisen immer wieder fängt, können wir bei Marx noch unglaublich gute Ideen finden.
Ich erhoffe mir, dass es gelingt, eine Kontinuität zu sichern, denn es wird diese Anstrengungen, dass die „Alten“ alle zusammenrufen, nicht mehr geben. Außerdem hoffe ich, dass die Frage der Revolution nicht so leichthändig gedacht und gesprochen wird. Es muss klar werden, dass zunächst die Demokratie – die es bislang ja gar nicht gibt – von uns zu erringen ist. Ich kann mir Demokratie nur von unten gebaut vorstellen und das ist im Moment so utopisch, dass wir das nur als Ziel formulieren können. Wir wollen Herrschaftszusammenhänge lockern, aber nicht von vornherein die Revolution erzwingen, eine solch furchtbar blutige Sache. Eine grundsätzliche Vorbedingung ist eine absolut radikale Arbeitszeitverkürzung auf mindestens die Hälfte – weil sonst sowieso niemand Zeit hat.
Das klingt so, als hätte sich etwas geändert in den Visionen des marxistischen Feminismus, wenn es nun um Reformpolitik geht. Wo bleibt der Anspruch des Sozialismus?
Nein, der Anspruch ist gleich geblieben: Umbau der Gesellschaft. So, dass auch Frauen Menschen sein können. Dazu muss der reproduktive Sektor schon ganz anders organisiert werden und eine relevante Größe in der wirtschaftlichen Gesamtrechnung darstellen. Um das zu erreichen, müssten alle Frauen politisch agieren, und dafür fehlt immer noch die allseitige Entwicklung jeder Einzelnen als Vorbedingung für die Entwicklung aller.
Frigga Haug ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie. Sie organisiert politische Bildung von und für Frauen und ist Mitglied der Partei Die Linke. Sie publiziert seit den 1970er-Jahren, zuletzt erschien „Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus.“
* Der Begriff wird bewusst verwendet, um den männlichen Charakter der Bewegung hervorzuheben