Macht mich bankrott. Ist mir egal. Bringt mich vor Gericht. Ich habe keine Angst“, so Shelby Lynn in einem Interview mit dem NDR. Die 24-jährige Irin hat die Berichterstattung über Till Lindemann und Rammstein losgetreten. Auf Instagram schilderte sie ihre Erlebnisse auf einem Konzert in Vilnius, berichtete von Erinnerungslücken und zeigte ihre Hämatome – und gab damit auch anderen mutmaßlich Betroffenen eine Stimme.
Die Vorwürfe gegen die Band, ihr Umfeld und besonders Lindemann wiegen schwer: Bei Konzerten der Band sollen Mitarbeiter*innen zahlreiche junge Frauen gezielt für Sex mit Lindemann rekrutiert haben. Auch Drogen oder K.O.-Tropfen könnten im Spiel gewesen sein, was Lindemanns Anwälte in einer Aussendung als „ausnahmslos unwahr“ bezeichnen. Die Berichte über nicht-konsensuale sexuelle Handlungen häufen sich.
Misogyne Inhalte hat Lindemann zumindest in den vergangenen Jahren ganz offen publiziert. Gedichte über einen Ich-Erzähler, der sich an schlafenden Frauen vergeht, ihnen Rohypnol in ihren Wein tropft, „kein Erbarmen“ hat, wenn diese „leise ‚Nein’ hauchten“.
In einem seiner Musikvideos schleppt Tillmann bewusstlose Frauen durch Backstagebereiche und singt dazu „alle Frauen, alles meins“, in sein Werk reiht sich auch ein gewalttätiger Porno ein, in dem offenbar keine professionellen Pornodarstellerinnen zu sehen sind. Mit Frauen könne er nur befreundet sein, wenn er sie vorher „gepoppt“ habe, erzählte er dem „Playboy“. Die Aufführung seines nicht-jugendfreien Solo-Projekts „Lindemann“ im Februar 2020 im Wiener Gasometer beendete Lindemann mit dem Screening eines Clips, der den Musiker zeigt, wie er in einen Raum unter der Bühne verschwindet und dort groben Sex mit zwei jungen Frauen hat – unterlegt mit komödiantisch anmutender Klaviermusik.
Auch wenn bisher Lindemann im Zentrum der Berichterstattung steht, ist klar, dass eine ganze Maschinerie dieses System am Laufen gehalten haben muss. Von Streit um eine Frau mit Gitarrist Kruspe berichtet etwa der „Spiegel“, von Backstage-Assistenten und der „Schlampenparade“, wie die zum Teil gerade einmal 18-Jährigen intern genannt würden. Dass die Frauen Backstage eingeschüchtert und unter Druck gesetzt würden, davon erzählte auch Influencerin Kayla Shyx auf YouTube.
Die Berichterstattung setzte aber auch eine andere, allzu bekannte Maschinerie in Gang: Tagelang versuchten Menschen, Shelby Lynn als psychisch krank darzustellen und ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben, viele traumatisierte Betroffene vertrauen sich nur anonym Reporter*innen an – aus Angst vor der Welle an Aggression, die sonst über sie hereinbrechen würde. Statt Verantwortung zu übernehmen, engagierte Rammstein die Anwaltskanzlei Schertz-Bergmann, die schon den wegen sexualisierter Gewalt angezeigten Comedian Luke Mockridge vertrat und nun Klagsdrohungen verteilt.
Was der Begriff Rape Culture meint, demonstrieren indes jene Kommentator*innen, die sich auf Selbstverantwortung von Betroffenen berufen. Wer Backstage zu Rammstein gehe, müsse schon wissen, worauf sie sich da einlasse. Sexualisierte Gewalt, die zum größten Teil von cis Männern ausgeht, in einer diskursiven Verdrehung zu einem Frauenproblem zu machen, ist eine zentrale Strategie des Patriarchats. Sie beschämt Betroffene und bildet das Schmieröl in einem System, das Täter schützt.
Entsprechend entspannt zeigt sich auch Till Lindemann, der beim Konzert in München Anfang Juni sagte, auch dieses Unwetter werde vorbeiziehen. Vielleicht hat er recht. Standing Ovations für Johnny Depp in Cannes, Comeback-Pläne von Marilyn Manson und Musiker, die K.O.-Tropfen auf der Bühne verwitzeln und unter dem Deckmantel der Provokation männliche Gewalt feiern, schüren wenig Hoffnung auf nachhaltige Änderungen. Auch im patriarchal-kapitalistisch geprägten Musikbusiness zählt am Ende vor allem eines: Cash. Marken wie Rammstein sind geradezu Gelddruckmaschinen.
Und doch: Der Widerstand gegen ein patriarchales System des Machtmissbrauchs ist nicht mehr aufzuhalten. Dutzende Investigativ-Journalist*innen arbeiten noch immer am Fall, viele von ihnen akribisch und unter strenger Einhaltung des Opferschutzes. Feminist*innen solidarisieren sich und schicken jene Botschaft an Betroffene, die es so dringend braucht: Wir glauben euch. Rammstein mag nur ein Fall in einem System sein, das Machtmissbrauch und misogyne Übergriffe normalisiert. Doch mit jedem neuen Fall wird es schwieriger, ihm ein bloßes Schulterzucken entgegenzusetzen. Der Mut von Shelby Lynn kann dafür als Symbol gelesen werden. •