Nach jedem Femizid gibt es eine Kundgebung. Natalia Hurst und Elizabeth Martínez von der Bewegung Ni Una Menos Austria wollen auf allen Ebenen gegen geschlechtsbezogene Gewalt aktiv werden. Interview: Naomi Lobnig
Als Reaktion auf eine Serie brutaler Femizide gründete sich 2015 in Argentinien die Bewegung Ni Una Menos („Nicht eine weniger“). Bald breitete sich die Protestbewegung gegen sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt an FLINTA auf andere lateinamerikanische Länder und darüber hinaus aus. Seit 2017 möchte Ni Una Menos Austria diese Form des intersektionalen und dekolonialen Feminismus auch nach Österreich tragen.
an.schläge: Wie sieht der Aktivismus von Ni Una Menos konkret aus?
Elizabeth Martínez: Wir versuchen, auf allen Ebenen etwas zu bewegen. Wir sitzen nicht nur in irgendwelchen Konferenzen und erzählen, welches Verständnis wir von Feminismus haben. Wir versuchen, diese Themen im Alltag sichtbar zu machen und in der Praxis Veränderungen anzustoßen. Wenn ich mit Freund*innen rede, wenn ich Fragen stelle, löst das etwas in den Köpfen aus.
Natalia Hurst: Am Anfang haben wir Workshops gemacht. Wir wollten die Gewalt an FLINTA sichtbar machen und melden. Gleichzeitig brauchten wir einen Ort, um zuzuhören, um Themen zu besprechen und dabei zu stricken, zu tanzen oder zu singen. Es fördert die Kommunikation, wenn man etwas zusammen macht. Leider ist das mit der Pandemie weggefallen. Grundsätzlich versuchen wir, viermal im Jahr Events auszurufen: Am 28. September 2021, dem Internationalen Tag für sichere Abtreibung, haben wir eine Performance-Demo für sichere Abtreibung organisiert. Am Tag gegen Gewalt an Mädchen und Frauen, haben wir vor der Pandemie gemeinsam mit LEFÖ, Take Back The Streets, Rhythms of Resistance und Feminist Killjoy unsere erste Demo Dinámica (Anm.: eine Form des multidisziplinären Demonstrierens) und das erste „Ni Una Menos“-Graffiti am Yppenplatz in Wien gemacht. Jetzt gibt es dort ein bleibendes Graffiti, das alle Femizide zählt. Am 8. März, dem feministischen Kampftag, haben wir dank der Gruppe Maracatú Nossa Luz Tanz und Trommeln in die Demo integriert. Durch den Tanz gelingt es, den Körper nicht mehr als Objekt, sondern als eigenes Territorium zu genießen. Und dann gibt es noch den Geburtstag der Bewegung Ni Una Menos am 3. Juni. Zusätzlich finden offene Austauschtreffen statt. Dieses Jahr war es schwierig; die Pandemie hat die Dynamik ein bisschen unterbrochen.
Welche politischen Forderungen habt ihr?
E. M.: Wir wollen nicht, dass die Opfer im Schatten bleiben und dann ein zweites Mal durch die Medien zu Opfern werden. In Lateinamerika werden die Opfer zumindest genannt, jedes Mal, wenn etwas passiert. Das finden wir wichtig, weil sonst die Betroffenen im Schatten bleiben. Hier in Österreich sind sie namenlos – man weiß nur, was passiert ist, wo und wann. Aber es ist wichtig, dass wir uns an die Namen erinnern, weil wir sonst nur eine Zahl haben, Femizid Nummer 20, 21, 22. Wir wollen ihnen ihre Namen geben.
N. H.: Wir fordern, dass der Begriff Femizid in Österreich als politische Kategorie wahrgenommen und anerkannt wird. Femizide passieren nicht nur in Argentinien oder in Mexiko. Sie finden hier statt. Gewalt an Frauen ist kein Naturgesetz, sondern ein Thema unserer Kultur, das wir anklagen wollen.
Wir verstehen, dass das System patriarchal ist. Wir wissen, dass sich das System radikal verändern muss. Wir brauchen Feminist*innen in den Institutionen, an den entscheidenden Orten. Es braucht einen Dialog in der ganzen Gesellschaft zu dem Thema – im Kindergarten ebenso wie im Parlament. Es gibt die Debatte, ob Aktivismus zusammen mit Parteien funktionieren kann, aber wir glauben, dass sich die Dinge auf parlamentarischer Ebene bewegen müssen.
Auf den Demos von Claim the Space (Anm.: Claim the Space ist ein autonomes feministisches Bündnis, bestehend aus unterschiedlichen Personen und Kollektiven) ist viel Wut spürbar. Claim the Space ist während der Pandemie entstanden, auch wegen der Femizide. Die Stille war so laut in der Pandemie, man musste etwas machen. Die Bewegung hat viel dazu beigetragen, den Begriff Femizid zu den Österreicher*innen zu bringen. Bis dahin war der Begriff hauptsächlich Migrant*innen und Akademiker*innen vorbehalten.
Welche Unterschiede oder Ähnlichkeiten gibt es hinsichtlich der Streikkultur in Argentinien oder Mexiko?
E. M.: In Lateinamerika sind Femizide und Gewalt auch deshalb generell sichtbarer, weil die Frauen lauter sind. Sie gehen auf die Straße. Sie gehen wütend auf die Straße. Eine Demo gegen Femizide ist keine Party, kein Frauenfest. Wir sind auf der Straße, weil eine von uns fehlt. Hier in Österreich, so wie ich das wahrnehme, wissen Frauen zwar, dass Sachen passieren und dass es politisch korrekt ist, an den Demos teilzunehmen, aber sie haben nicht so viel Wut, wenn sie auf die Straße gehen. Ich meine das nicht böse, aber ich denke, diese Wut fehlt noch ein bisschen.
Wie geht ihr damit um, ständig mit diesen gewaltvollen Themen konfrontiert zu werden?
E. M.: Man muss einen Weg finden, um nicht verrückt zu werden. Ich persönlich fühle mich an manchen Orten unsicher, weil ich sie mit anderen Situationen verbinde. Vielleicht habe ich gerade über mehrere Femizide in unterschiedlichen Ländern gelesen – dann denke ich daran, dass das überall passieren kann. Man muss einen Weg finden, um all das zu verarbeiten. Wir sollten uns in solchen Situationen an die Idee von Ni Una Menos halten und uns sagen: Sie fehlt, aber ich bin für sie da und nehme ihre Stimme. Deswegen schreien wir. Wenn mir etwas passiert, weiß ich, dass mein Frauennetz für mich da ist.
N. H.: Die Gruppe gibt uns Ressourcen, um zu reagieren, die wir sonst nicht hätten.
Wie wird in Österreich mit geschlechtsspezifischer Gewalt umgegangen?
N. H.: Es gibt keine echte Wahrnehmung dieses Problems auf staatlicher Ebene. Wir wollen Raum und Zeit für die Femizid-Opfer schaffen, weil sie sonst unsichtbar bleiben. Und wenn wir dem Thema Frauengewalt das Tabu nehmen, wird auch leichter sichtbar, welche anderen Opfer von Gewalt es in der Gesellschaft gibt. Man darf weder von Frauengewalt wegschauen noch von Menschenhandel noch von moderner Sklaverei.
Gibt es Best-Practice-Beispiele aus anderen Ländern?
E. M.: Ich würde sagen, Lateinamerika ist da schon weiter. Zum Beispiel ist in Mexiko der explizite Tatbestand Femizid ein Grund, dass Menschen ins Gefängnis gehen. Das fehlt in Österreich noch. Nicht nur in Österreich. In ganz Europa fehlt die Anerkennung von Femizid als Straftat.
N. H.: Wir wissen zum Beispiel aus Spanien, dass im Fall eines Femizids dieser Begriff auch in den Nachrichten verwendet wird. In Österreich ist in manchen Medien noch immer von einem „Liebesdrama“ die Rede. Sie folgen damit einem patriarchalen Narrativ. Er hat sie getötet, weil er sie so liebte. Er hat sie vergewaltigt, weil sie einen Rock anhatte. Ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ entlastet die Täter. Die Bezeichnung Femizid lässt die Tat eindeutig als Hate Crime erkennbar werden, das wird auch schwerer bestraft.
Nach jedem Femizid gibt es eine Kundgebung am Karlsplatz. Welche Kraft haben solche Aktionen?
N. H.: Auf den Claim-the-Space-Demonstrationen schreien wir jeden Femizid, der in diesem Jahr begangen wurde. Da gibt es viel Wut und viel Trauer. Manche fragen, ob man das nicht ein bisschen weniger traurig machen kann, aber es geht nicht „lustiger“. Es ist einfach eine Katastrophe. All diese Frauen sind nicht mehr da und es gibt keinen Grund dafür, nicht traurig oder wütend zu sein. Mittlerweile hat sich daraus eine eigene Dynamik entwickelt. An verschiedenen Orten und Plätzen, in unterschiedlichen Demonstrationen gegen Femizide schreien alle „Ni una menos“, weil es zu einem Schrei gegen Gewalt geworden ist …
E. M.: … und auch, um uns daran zu erinnern, dass eine von uns fehlt. Wir gedenken der Frau, die am 29. April 2021 ermordet wurde. Wir dürfen sie nicht vergessen. Sie fehlt. Und dann die nächste und die nächste und die nächste. Wenn man dort ist und hört, wie viele Frauen fehlen, ist es wirklich erschreckend. Gleichzeitig denkt man, das könnte ich sein oder meine Schwester oder meine Freundin. Deswegen stehen wir hier und erinnern uns, dass sie fehlen und dass so etwas nicht passieren darf. Nirgendwo, nie. •
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