Der Film „Favoriten“ beobachtet feinfühlig den Alltag einer Lehrerin und ihrer Klasse an Wiens größter Volksschule. Zum Kinostart hat CLEMENTINE ENGLER mit ILKAY IDISKUT über ihren Beruf gesprochen und darüber, wie Chancengleichheit im Bildungssystem aussehen könnte.
Der zehnte Wiener Gemeindebezirk ist nicht nur der bevölkerungsreichste, sondern wird nicht erst nach den Messerattacken auf dem Reumannplatz auch als der gefährlichste bezeichnet. In Favoriten sprechen fast vierzig Prozent der Bewohner*innen Deutsch nicht als Muttersprache. Drei Jahre lang begleitete die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann in diesem multikulturellen Umfeld eine engagierte Lehrerin und ihre Volksschulklasse. Das Ergebnis ist der subtile und gleichzeitig tief berührende Dokumentarfilm „Favoriten“, der seine Weltpremiere auf der diesjährigen Berlinale feierte und danach die Diagonale eröffnete. Aus dem Blickwinkel der sieben- bis zehnjährigen Schüler*innen erzählt der Film von Ängsten und Wünschen, von Herausforderungen und Zusammenhalt. Trotz seiner konsequenten Zurückhaltung gelingt es dem Film, die gravierenden Probleme im österreichischen Bildungssystem deutlich sichtbar zu machen.
an.schläge: Welche Rolle spielen Volksschulen im Lebenslauf eines Menschen?
Ilkay Idiskut: Eine sehr wichtige. Ich glaube, diese Zeit prägt am meisten, denn hier werden die Grundsteine gelegt. Und wenn die nicht gut gelegt sind, können die Schüler*innen oft die nächsten Schritte ihres Bildungswegs nicht gut meistern. Es fehlt ihnen etwas Wesentliches. Das erkennen sie dann in der Mittelschule und im Gymnasium.
Wie sind Sie an die Volksschule in Favoriten gekommen?
Ich habe während meines Lehramtsstudiums im 13. Gemeindebezirk Hietzing an einer Volksschule begonnen. Damals gab es schon einen Personalmangel, daher kam die Jobzusage sehr schnell. Die Klasse war toll, aber im Vergleich zu meiner Schule in Favoriten auch komplett anders, weil in Hietzing alle Kinder Deutsch als Muttersprache hatten und zu Hause gefördert wurden. Genau genommen war es eine „Vorzeigeklasse“. Die Kinder haben Klavier und Violine gespielt, waren im Fußballverein oder beim Turnen. Die Eltern haben ihre Kinder in allem unterstützt, weshalb sie sehr viel konnten. Was wir dort in einer Stunde durchgenommen haben, würde in Favoriten niemals so funktionieren. Nach einem Jahr habe ich aus verschiedenen Gründen gewechselt und bin in Favoriten gelandet. Hier habe ich Kinder kennengelernt, die mehr Unterstützung von mir brauchen.
Sie reden viel über das aktuelle Weltgeschehen und damit verbundene Werte. Was möchten Sie den Kindern mitgeben?
Wir müssen einander respektieren, um Konflikte zu vermeiden. Ich begegne den Kindern auf Augenhöhe, um ihnen diesen Respekt zu vermitteln, und wünsche mir das im Gegenzug von ihnen, auch untereinander. Deshalb lasse ich sie aussprechen, egal ob ich ihre Meinung richtig finde oder nicht. Wenn ein Kind äußert, dass es Krieg gut findet, versuche ich, nicht negativ zu reagieren. Ich möchte niemanden bloßstellen, sonst könnte es passieren, dass sich das Kind mir nie wieder öffnet. So möchte ich ihnen ein respektvolles Miteinander beibringen und zeigen, wie man respektvoll diskutieren kann, egal ob das Gegenüber ein Kopftuch oder ein Kreuz um den Hals trägt, Schweinefleisch isst oder nicht. Diese Themen gibt es bei uns. Und wenn so Respekt geschaffen wird, kann es auch in der Gesellschaft funktionieren.
Der Film zeigt Missstände im Bildungssystem auf, mit denen Sie zu kämpfen haben. Was bräuchten insbesondere die Volksschulen?
Wir bräuchten mehr helfende Hände in den Schulen. Aufgrund des Personalmangels gibt es keine Lehrer*innen, die angestellt werden können. Unsere Schüler*innen verkehren sehr oft in ihrer eigenen Community. In Favoriten gibt es viele Geschäfte, in denen auf Türkisch eingekauft werden kann; das Gleiche gilt für bosnisch-kroatisch-serbisch-sprachige und arabischsprachige Kinder. Oft scheitert es daran, dass viele Kinder der deutschen Sprache gar nicht mächtig sind. Deshalb brauchen wir muttersprachliche Personen in den Schulen, die gut Deutsch sprechen und sich um bestimmte Kinder kümmern. Außerdem müssen wir multiprofessionelle Teams an die Schulen holen, denn wir Lehrer*innen sind keine Sozialarbeiter*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen oder Coaches. Wir sind für den Unterricht verantwortlich, aber aktuell machen wir viel mehr. Wir fühlen uns verpflichtet und dabei gehen Deutsch- oder Mathestunden verloren. Die Kinder müssen aber eine angemessene Bildung erhalten, um später als Erwachsene gute Jobchancen zu haben. Sonst kann das zu gesellschaftlichen Konflikten führen.
Welchen Einfluss hatten Ihre Eltern auf Ihre Bildung?
Meine Eltern sind aus der Türkei und meine Muttersprache ist Türkisch. Während der Zeit der Gastarbeiter-Anwerbung ist mein Vater in Europa herumgereist und hat sich dann in Österreich niedergelassen. Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, ist meine Mutter nachgekommen. Meine Mutter hat uns oft vorgelesen – auf Türkisch und Deutsch. Meinem Vater war es immer wichtig, dass wir etwas erreichen. Er hat uns deshalb überall hingefahren, egal ob zur Schule oder später während meines Studiums zur weit entfernten Praxisschule. Er hat sich wirklich sehr bemüht.
Was muss sich grundsätzlich am Bildungssystem für mehr Chancengleichheit ändern?
Wir müssen in Österreich einiges verändern und moderner werden, statt hinterherzuhinken. Die Gesetze, auf denen unser Bildungssystem basiert, wurden vor sechzig Jahren verfasst. Es ist eine Tatsache, dass viele Kinder in Österreich mit vielen verschiedenen Sprachen leben. Das muss gesehen werden. Wir brauchen endlich besser durchdachte Konzepte, die gemeinsam mit Fachleuten erarbeitet werden, nicht mit Menschen, die noch nie in einer Volksschule waren. Die Kinder haben hier andere Bedürfnisse.
Wie könnte eine Veränderung konkret aussehen?
Ich bin für die Einführung einer Gesamtschule. Das Selektieren direkt nach der Volksschule halte ich für völlig falsch. Wenn zehnjährige Kinder auf die Mittelschule gehen, statt aufs Gymnasium, stempeln wir sie ab. Oft hängen die Schulnoten auch von den Leistungen der Eltern ab. Wenn mit den Kindern ordentlich gelernt wird, schaffen sie es eher aufs Gymnasium. Mit einem Gesamtschulansatz könnten die Klassen auch besser durchmischt werden. Ein weiteres generelles Problem ist die Klassengröße. Außerdem sollten die Deutschförderklassen für Kinder, die kein Deutsch sprechen, abgeschafft werden. Dort sitzen Kinder in völlig überfüllten Klassen, um Deutsch zu lernen, wobei manche alphabetisiert sind und andere nicht. Oft sind es Flüchtlingskinder. Das ist eine Verschwendung von Ressourcen, weil eigenes Personal eingesetzt wird, aber bei der Klassengröße eine gute Betreuung unmöglich ist.
Kinostart AT: 19. September 2024