Feminismus und Kunst bedeutet: Nach Jahrhunderten der männlichen Kanonisierung diese Welt zu zerlegen und neu zu erschaffen. Von Franca Bohnenstengel und Judith Geffert
„Ich glaube, dass es sich bei der bloßen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnodderigen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt.“
In ihrem feministischen Kultroman „I Love Dick“ seziert die US-amerikanische Video-Künstlerin und Autorin Chris Kraus mit schonungslosem Blick die avantgardistische Kunstszene der 1970er- bis 1990er-Jahre. Zum Vorschein kommt eine Welt, in der Männer als universelle Genies verehrt werden und Frauen vor allem als deren Musen, bestenfalls als neurotische, selbstbesessene oder ständig auf ihre Sexualität reduzierte Künstlerinnen vorkommen. Kraus zeigt, dass feministische Kunst immer auch eine Beschäftigung mit Machtstrukturen ist. Obwohl der Roman 25 Jahre alt ist, ist er nach wie vor brandaktuell.
Männliche Genies und ihre Kunstgeschichte. Bis heute ist kaum bekannt, dass Frauen über Jahrhunderte künstlerisch aktiv waren. In kunsthistorischen Publikationen werden sie oftmals gar nicht oder nur als große Ausnahmen erwähnt. Das liegt einerseits an der patriarchalen Kunstgeschichtsschreibung, andererseits an der gesellschaftlichen Position von Frauen. Im Mittelalter wurden künstlerische Tätigkeiten als Handwerk bewertet und in Zünften vollzogen, in die auch Frauen, häufig aus wohlhabenden Familien, aufgenommen wurden. Da sie zumeist unter dem Namen ihres Meisters arbeiteten, ist es unmöglich, ihre Wege konkret zu erforschen. Mit der Entstehung der modernen europäischen Universitäten während der Renaissance im 16. Jahrhundert verlagerte sich Kunst zunehmend in Institutionen, zu denen Frauen keinen Zugang erhielten. In dieser Zeit entstand auch der Genie-Gedanke um den intellektuellen und künstlerischen männlichen Schöpfer. Künstlerische Tätigkeiten von Frauen blieben in der häuslichen Sphäre, im Privaten verhaftet oder wurden unter männlichen Pseudonymen veröffentlicht. Erst 1919 und 1920 wurden Frauen an den Kunstuniversitäten in Berlin und Wien zugelassen.
Dass europäische Künstlerinnen in den fortschrittlichen 1920er-Jahren wesentlich mehr Möglichkeiten hatten als bekannt, um mit ihrer Kunst an die Öffentlichkeit zu treten, zeigt die 2020 von Ingrid Pfeiffer in der Frankfurter Schirn Kunsthalle kuratierte Ausstellung „Fantastische Frauen“ am Beispiel des Surrealismus. Dennoch seien diese Künstlerinnen im Nachhinein aus der Geschichtsschreibung gestrichen worden, sagte Pfeiffer im Interview mit „gallerytalk.net“. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde moderne Kunst auf vielen Ebenen unterdrückt. „In den gesellschaftlich konservativen 1950er- und 1960er-Jahren dominierte eine nur von Männern verfasste Kunstgeschichte, die Frauen überhaupt nicht im Blick hatte.“ Auf diesen Kanon, der vom weißen männlichen Blick ausgeht, baut die westliche Kunstgeschichte bis heute auf.
Feministische Strategien und Kritik. Die Surrealist*innen waren mit stereotypen Darstellungen von Weiblichkeit konfrontiert: Ihre cis endo männlichen Kollegen zeigten Frauen entweder als Heilige oder Hure. Dem allgegenwärtigen Sujet des nackten weiblich gelesenen Körpers setzten die Künstler*innen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Subjekt und der Konstruktion von Geschlecht entgegen. Derdie französische Künstlerin Claude Cahun beispielsweise entwickelte ein künstlerisches Werk, in dem die eigene Identität als fluide gezeigt und der eigene Körper nicht zwischen männlichen und weiblichen Stereotypen verortet wurde. Dafür nutzte Cahun in Fotocollagen, Fotografien und Texten die ästhetischen Ausdrucksweisen der Maskerade und Pose sowie fragmentierende Bild-Techniken.
Im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren beschäftigten sich westliche Künstlerinnen kritisch mit dem gesellschaftlichen Status von Frauen und brachten vergessene Persönlichkeiten wieder zum Vorschein. Auch dabei spielte der eigene Körper eine wesentliche Rolle. Eines der bekanntesten Werke ist die Rauminstallation „The Dinner Party“ (1979) von Judy Chicago: 39 arrangierte Gedecke, auf denen verschiedene Vulva-Formen abgebildet sind, angerichtet auf einer Tischtafel in Form eines Dreiecks. Jedes Gedeck repräsentiert eine Frau aus der Mythologie oder Geschichte, fast ausschließlich aus dem westlichen Kulturkreis. Die Literaturkritikerin Hortense Spillers kritisierte die problematische Darstellung von Schwarzen Frauen: Unter den 39 Gedecken ist mit Sojourner Truth nur eine Schwarze Frau vertreten. Zudem ist einzig auf Truths Gedeck keine Vulva abgebildet.
„Do Women have to be naked …?“ Westliche Institutionen wie Kunstmuseen reproduzieren nach wie vor einen weißen cis endo männlichen Blick. Für ihre Arbeit „Do Women have to be naked to get into museums“ hat die Künstlerinnengruppe Guerilla Girls 1989 im New Yorker Metropolitan Museum nachgezählt und herausgefunden: Nur fünf Prozent der Werke stammten von Künstlerinnen, während 85 Prozent der Arbeiten nackte weiblich gelesene Körper zeigten.
In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert – so stammen auf der von Cecilia Alemani kuratierten 59. Biennale in Venedig in diesem Jahr über neunzig Prozent der ausgestellten Werke von Frauen und queeren Personen. Und nach einer Studie des deutschen Instituts für Museumsforschung betrug der Anteil von Frauen an Führungspositionen in großen deutschen Kunstmuseen im Jahr 2014 knapp 46 Prozent. Solche Entwicklungen erweitern sowohl das Themenspektrum von Ausstellungen als auch die Wahrnehmung dessen, was als wertvolle, wichtige Kunst gilt und was für Museumssammlungen angekauft wird.
Die höchsten Verkaufspreise erzielen jedoch nach wie vor Werke von bekannten Künstlern. Das liegt auch daran, dass Männer häufiger in Einzelausstellungen zu sehen sind. In einer Studie zur „Sozialen Lage von Kunstschaffenden und Kulturvermittler*innen in Österreich“ aus dem Jahr 2018 wird deutlich, dass künstlerisch tätige Frauen rund 25 Prozent weniger Einkommen erzielten als ihre männlichen Kollegen.
Dieses Machtgefälle verdrängt vor allem Menschen, die aus mehrfach marginalisierten Positionen heraus von ihrer Kunst leben wollen. Personen, die finanziell nicht abgesichert sind und darüber hinaus die eigene Existenz in der Kunstwelt immer wieder rechtfertigen müssen – weil sie zu radikal und unbequem zu sein scheinen oder weil sie bestimmte Codes nicht bedienen –, laufen Gefahr, Kunststudium oder Karriere abzubrechen. Weiterhin sind in den Ausstellungssälen und den höheren Positionen in Museen kaum BIPoC, trans und nicht-binäre, behinderte und von Klassismus betroffene Personen zu finden. Dadurch fehlen einerseits wichtige Vorbilder, andererseits ist es schwieriger, offen über Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Mehrfach marginalisierte Künstler*innen sehen sich außerdem immer wieder damit konfrontiert, dass ihre Arbeit als „Token“, also als Aushängeschild für Diversität ausgenutzt werden könnte.
Kein Kanon, keine „Inklusion“! Eine aktuelle feministische Auseinandersetzung mit Kunst muss daher über die bloße Beschäftigung mit Geschlechterbeziehungen und finanzieller Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen hinausgehen. Sie muss nicht nur den männlichen Blick in einen weiblichen umkehren, sondern das Blicken an sich queeren. Sie muss die zahlreichen Verschränkungen von Machtstrukturen – z. B. Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Klassismus, Ableismus, Antisemitismus und Eurozentrismus – in den Blick nehmen und das gesamte kapitalistische System hinterfragen, in dem Kunst geschaffen, gezeigt und verkauft wird. Statt „Wie können wir den Kanon erweitern?“ lautet die drängende Frage: „Warum brauchen wir überhaupt einen Kanon?“
Feministische Kunst im 21. Jahrhundert bleibt widerspenstig. Wie die US-amerikanische Kuratorin und Autorin Legacy Russell in ihrem kraftvollen künstlerischen Manifest „Glitch Feminismus“ schreibt: „Wir scheitern daran, in einer Maschinerie zu funktionieren, die nicht für uns entwickelt worden ist. Wir lehnen die Rhetorik der ‚Inklusion‘ ab und werden nicht darauf warten, dass diese Welt uns liebt, uns versteht oder einen Raum für uns schafft. Wir nehmen Raum ein, zerlegen diese Welt und erschaffen neue Welten.“ •
Judith Geffert ist Kulturwissenschaftler*in und freie Autor*in für Radio und Print. Franca Bohnenstengel ist Buchhändler*in und freie*r Lektor*in und engagiert sich im Verlagskollektiv etece buch.