Im geschlechtssensiblen Kindergarten gibt es keine Puppen- und Bauecke, sondern das ganze Programm für alle. Von LEA SUSEMICHEL
„Mein Papa rasiert sich, damit es beim Kuscheln nicht kratzt“, steht auf einem Plakat aus bunter Pappe. Direkt darunter: „Mein Papa rasiert sich die Achseln, damit er nicht stinkt.“ Das Pappschild hängt in einem Wiener Kindergarten und fasst die Ergebnisse eines „Bubentags“ zusammen, bei dem es um das Thema Körperpflege ging. Und weil es ein geschlechtssensibler Kindergarten ist, lernen die Buben hier eben auch, dass es bei der Körperrasur keine strikten Geschlechtergrenzen geben muss. Oder entdecken, dass ein Bad ein sinnliches Vergnügen sein kann und Duschgel z.B. nach Apfel, Kokosnuss oder „scharfem Zuckerl“ riecht. Einmal in der Woche gibt es im „fun & care“-Kindergarten im 15. Wiener Gemeindebezirk sogenannte geschlechtshomogene Gruppen, in denen Jungs und Mädchen jeweils unter sich sind, um Dinge auszuprobieren, die für ihr Geschlecht immer noch eher untypisch sind. Die Jungs pflegen dann eben zum Beispiel ihren Körper und trainieren beim Riechen und Spüren ihre sensitiven Fähigkeiten. Oder sie spielen mit Herbstlaub, malen nach Musik oder mit Kreide auf der Straße. Die Mädchen fahren derweil Skateboard und üben E-Gitarre. Oder machen einen Ausflug ins Naturhistorische Museum, um sich dort Wassertropfen unterm Mikroskop anzuschauen.
Den ganzen Topf. „Geschlechtssensible Pädagogik bedeutet, die Kinder nicht dem Geschlecht nach, sondern individuell zu fördern, und allen Kindern den ganzen Topf an Möglichkeiten anzubieten“, erklärt die Leiterin Sandra Haas. Das bedeutet, dass es dasselbe Programm unterschiedslos für beide Geschlechter gibt. „Natürlich schlage ich keinem Mädchen die Puppe aus der Hand und entreiße keinem Buben das Auto“, so Haas, „aber wenn wir beispielsweise ein Technikangebot machen und wieder nur die Buben hinstürmen, greifen wir schon steuernd ein und ermuntern die Mädchen bzw. beginnen erst mal mit ihnen.“ Für deren Technikbegeisterung wird überhaupt viel getan: Es gibt eine Werkbank mit echtem Werkzeug, und regelmäßig wird diverser Elektromüll gemeinsam zerlegt.
Auch Kristina Botka, die seit über drei Jahren als Pädagogin bei fun & care angestellt ist, hat dabei die Erfahrung gemacht, dass die nach Geschlecht getrennten Gruppen zwischendurch wichtig sind und es nicht genügt, „einen Workshop anzubieten und zu schauen, wer kommt“. Im Nu säße dann nämlich eine rosarote Mädchenrunde um den Maltisch und mache, „was sie in der Welt draußen gelernt hat: feinmotorisch arbeiten und – möglichst leise – schöne Dinge tun“. Deswegen werden die Malsachen für eine Woche auch einmal ganz weggeräumt, ein andermal alle Konstruktionsmaterialien wie Legosteine.
Das Spielzeug ist sowieso mobil und darf vermischt werden, die klassische Puppen- und Bauecke anderer Kindergärten fehlt völlig. Es wird auf geschlechtergerechte Sprache geachtet, in den Bilderbüchern rettet die Prinzessin den Prinzen vor dem Drachen, und die Geschichten erzählen auch mal von Kindern mit zwei Mamas.
Doch im Verbund mit Hello Kitty- und Hannah Montana-Outfit machen rigide Vorstellungen zum richtigen Rollenverhalten der Geschlechter leider trotzdem auch an der Tür zum geschlechtssensiblen Kindergarten nicht Halt. Dass Jungs mal in einen Rock schlüpfen, gelingt deshalb trotz bunt bestückter Verkleidungskiste eher selten, und auch „Farbtage“, an denen alle Kinder einheitlich zum Beispiel im gelben Shirt kommen sollen, helfen nur vorübergehend gegen die monochrome Geschlechtertrennung, die schon Kinder im Krippenalter dazu bringt, bestimmte Kleidungsstücke entschieden abzulehnen. Wichtig sei es, den Mädchen aber zumindest zu zeigen, dass sie auch in Zartrosé im Matsch wühlen und sich richtig dreckig machen dürfen, so Botka. Und auch Sandra Haas ist der Ansicht, dass es vor allem darum gehe, Mädchen zu vermitteln, dass sie stark, selbstbewusst und selbstbestimmt sein dürfen – auch im Blümchenkleid und mit Glitzerhaarspange.
Den Buben hingegen müsse immer wieder klargemacht werden, dass sie nicht genauso mutig und cool wie Spiderman sein müssen. Hilflosigkeit zulassen und zugeben ist oft schon für ganz kleine Jungs ein Problem, weshalb das Sprechen über Gefühle eine große Rolle spielt. Auch weil männliche Kinder häufig einen viel kleineren Wortschatz haben, um Emotionen auszudrücken.
Während mit Mädchen also eine Fotoserie geschossen wird, für die sie ihre wütendsten Gesichter machen sollen, lernen in Gesprächsrunden vor allem Buben, die eigenen Stimmungen genau zu benennen.
Role-Models. Dass sie hierfür männliche Vorbilder haben, ist eine wichtige Säule geschlechtsensibler Pädagogik. Bei fun & care ist es deshalb alltäglich, dass ein männliches Role-Model die Mahlzeiten vorbereitet, wickelt, tröstet und beim Handarbeiten hilft. Die Personalpolitik sieht vor, dass das Zweierteam mit BetreuerIn und PädagogIn jeder Gruppe aus einem Mann und einer Frau besteht. Da es aber so wenige ausgebildete Männer gibt – nur zwei Prozent der SchülerInnen der Bildungsanstalten für Kindergartenpädagogik (BAKIPs) sind männlich, viele Absolventen üben den Beruf aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen dann aber gar nicht aus –, lässt sich das allerdings nicht durchgängig realisieren. Denn kompetent und feministisch sensibilisiert sollen sie schließlich auch sein: „Nur des Geschlechts wegen stelle ich einen Mann nicht ein“, so Haas.
Vorbilder haben die Kinder jedoch nicht nur im Kindergarten, sondern vor allem auch zu Hause. Eine weitere wichtige pädagogische Säule ist deshalb die Elternarbeit. Zumal der geschlechtssensible Schwerpunkt nur für einen kleinen Prozentsatz der Eltern der ausschlaggebende Grund war, ihr Kind in diesen Kindergarten zu schicken. „Oft ist es einfach der nächstgelegene“, sagt die Pädagogin Barbara Tinhofer, die ebenfalls seit 2008 im 15. Bezirk arbeitet. Manche Eltern hätten sich jedoch auch sehr bewusst für diesen Kindergarten entschieden, nachdem sie sich zuvor andere angesehen haben und dort mit vielen Dingen nicht einverstanden waren, so Tinhofer. Mütter und Väter werden über Projekte mittels Aushängen und Wandzeitungen informiert sowie immer wieder auch in Aktivitäten einbezogen. Außerdem werden die Frauen alljährlich zum „Werktag“, die Männer hingegen zum „Backtag“ oder zwischendurch auch mal für Näharbeiten eingeladen.
Grundsätzlich würden Väter kontinuierlich in die Verantwortung genommen, erklärt Tinhofer. Wenn ein Kind erkrankt, wird zuerst der Vater verständigt und gebeten, es abzuholen. Fehlt Wäsche, wendet man sich ebenfalls an ihn. Kristina Botka: „Natürlich kommt es dabei vor, dass wir die Antwort erhalten: ‚Ich werde es meiner Frau sagen …‘“
Obwohl sich viele Eltern zumindest sehr interessiert an dem Konzept zeigen, gebe es aber auch immer wieder Abwehrhaltungen, erzählt Sandra Haas. Wenn dann beispielsweise auf einem Fragebogen angekreuzt wird, „dass dem Sohn im Fasching die Fingernägel bitte nicht lackiert werden sollen, fragen wir aber nach, ob er an Allergien leidet oder die Entscheidung einen anderen Grund hat“. Oft gelinge es durch solches Nachbohren, Widerstände zu überwinden, und auch manche Buben selbst zeigen nach anfänglicher Skepsis schließlich doch ganz stolz ihre roten Nägel.
Schlecht bezahlte Schwerstarbeit. Auch wenn vieles anders ist bei fun & care: An die Richtlinien zu Gruppengröße und Personalschlüssel muss man sich auch hier halten. Pro Krippengruppe (Eineinhalb- bis Dreijährige) sind es 15, in den anderen Gruppen je 25 Kinder, die von nur zwei Personen betreut werden. Eine davon muss pädagogisch ausgebildet sein, die andere arbeitet als BetreuerIn und ist quasi Hilfskraft. Mehr Personal und kleinere Gruppen gehörten deshalb überall zu den wichtigsten Forderungen von KindergartenpädagogInnen, sagt Barbara Tinhofer. Emanzipatorische Pädagogik lasse sich bei dieser Anzahl schwer verwirklichen, kritisiert auch Botka. „Ich kann bei 25 Kindern nicht auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen eingehen.“ Mehr Vorbereitungszeit wäre außerdem wichtig. Derzeit sind es vier Stunden von vierzig, in denen dann auch noch die Wochenprotokolle und Evaluationen erledigt werden müssen. Die Forderung nach mehr Lohn komme oft erst zum Schluss, obwohl der Job miserabel bezahlt ist und es nicht einmal einen Kollektivvertrag gibt. In Österreich sei die Berufsgruppe für die Gewerkschaft offensichtlich nicht wichtig genug, so Tinhofer. Anders in Deutschland, wo die Gewerkschaft sogar Studien finanzierte, mit denen nachgewiesen wurde, dass die Tätigkeit – etwa hinsichtlich der Lärmbelastung – die Kriterien von Schwerstarbeit erfüllt.
Fußnoten:
(1) EFEU. Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle,
www.efeu.or.at
(2) Claudia Schneider ist außerdem Autorin eines Leitfadens für LehrerInnen zum Thema geschlechtssensible Kindergartenpädagogik. Online unter: www.bmukk.gv.at/medienpool/15545/leitfaden_bakip_09.pdf
Auch die Ausbildung gibt Anlass zu Kritik, insbesondere was Gendersensibilität anbelangt. „Ich kann die Stunden während meiner gesamten Ausbildungsjahre an einer Hand abzählen, in denen Geschlecht ein Thema war. Und dann ging es meist darum, dass Buben ruhig auch mal mit Puppen spielen dürfen“, erinnert sich Botka.
Claudia Schneider vom Verein EFEU(1) war gemeinsam mit der ersten Leiterin von fun & care für die gendersensible Qualifizierung des Personals vor der Eröffnung 1999 zuständig. Gemeinsam haben die beiden außerdem eine Gender-Expertise für den aktuellen Lehrplan der BAKIPs verfasst(2). Schneider hält geschlechtssensible Pädagogik bereits im Kleinkindalter für elementar wichtig, u.a. „weil sie gegen Diskriminierungen wirkt und die persönlichen Entwicklungspotenziale des Kindes unabhängig vom Geschlecht fördert“. Inzwischen sei einiges in den Lehrplan implementiert worden. Kristina Botka kritisiert jedoch, dass explizit emanzipatorische Lehrinhalte weiterhin rar seien.
Für die Umsetzung einer weiteren wichtigen Forderung sollte sich das jedenfalls dringend ändern. „Denn alle Kindergärten sollten geschlechtssensibel sein“, verlangt Barbara Tinhofer.