Eine Gruppe von Männern belästigt organisiert in der Silvesternacht Dutzende Frauen. Danach entspinnt sich ein rassistischer Diskurs – und keiner über sexuelle Gewalt. Von NATASCHA STROBL
Sexuelle Gewalt fühlt sich für viele Frauen nach wie vor wie ein Stigma an. Sie schämen sich. Ihre Aussagen werden infrage gestellt. Der gesellschaftliche Umgang damit hat sich in den letzten hundert Jahren nur graduell verbessert.
In der feministischen Praxis hat sich deswegen eine simple Herangehensweise entwickelt, die auch heute noch radikal in ihrer Einfachheit ist: Wir glauben den Frauen, die von Übergriffen berichten. Wir stellen das Erlebte nicht infrage und wir sind für sie da. Denn jeder Übergriff, jede Vergewaltigung ist kein Normalzustand, den man(n) buchhalterisch zur Kenntnis nimmt, sondern verdient die völlige Unterstützung der Betroffenen. Punkt.
Es ist ein großer Verdienst feministischer Bewegungen, dass den Betroffenen eine Stimme gegeben wird. Nein, eure Übergriffe sind nicht lustig und nicht normal. Und ja, es fängt schon beim Witzeln und beim (ungefragten und ungewollten) Klaps auf den Po an. Sexuelle Gewalt hat viele Schattierungen und jede verdient unsere Aufmerksamkeit: Gewalt in hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen, gegen proletarische Frauen, in der Verknüpfung mit Rassismus und Kolonialismus, gegen Schülerinnen, am Arbeitsplatz, auf der Straße …
Rape Culture – It’s a thing. Jedes einzelne Mal, wenn eine Frau einen Übergriff zur Sprache bringt, tut sie das in einem Klima, in dem sexualisierte Gewalt mitunter als normal angesehen wird – auch weil nur ein Bruchteil aller Übergriffe von „Fremden“ auf der Straße geschieht, während das Gros im sozialen Nahraum, in der Familie, vom Ehe- oder Lebenspartner ausgeht. Sie macht sich angreifbar und verletzbar. Weil es Leute gibt, die ihr Leid anzweifeln oder sich sogar darüber lustig machen und meinen, dass das Opfer es selbst verschuldet hat. Dieses Klima heißt „Rape Culture“, also eine Alltagskultur, die Vergewaltigungen möglich macht und diese legitimiert. Diese Alltagskultur zeigt sich in dem recht wirren Phänomen von „Pickup Artists“, in einer Debatte, ob ein „Nein“ wirklich ein „Nein“ ist, darin, dass Vergewaltigungen in Popmusik und Jugendsprache eine beliebte Drohung sind („Ich fick dich“) oder in Filmen als bloßer Plotfüller vorkommen, ohne dass dieser Handlungsstrang weiter verfolgt wird.
Warum habe ich das so lange ausgeführt? Weil all das immer wieder explizit gemacht werden muss. Denn auch in linken Kontexten werden solche feministischen Errungenschaften gerne als selbstverständlich vorausgesetzt.
Jedes Mittel recht. Die massenhaften Übergriffe in Köln sind eine unfassbare Tat, zu der man nicht schweigen darf. Solche Taten haben eine klare Botschaft an Frauen: Ihr habt auf der Straße nichts verloren, wir können euch diesen Ort zu einem Minenfeld machen, ihr müsst euch immer unsicher fühlen.
Heikel wird es in diesem Fall, weil die Täter Migrationshintergrund haben. Wie immer in solchen Fällen stürzen sich rechte Gruppierungen darauf und präsentieren sich als die Retter_innen (weißer!) Frauen. Das ist besonders ekelhaft, weil es diesen Menschen selbstverständlich nicht um die Verhinderung sexualisierter Gewalt geht. Das ist ihnen nicht nur völlig wurscht, sie sind sogar normalerweise auch diejenigen, die das Klima der Rape Culture schaffen und Betroffenen Steine in den Weg legen. Es sind genau jene, die Frauenhäuser zusperren wollen, Slutshaming betreiben (also Frauen wegen ihrer angeblichen Freizügigkeit z. B. Mitschuld an erlebten Übergriffen geben) und die Täter in Schutz nehmen, ja mitunter vielleicht sogar selbst zur Tätergruppe gehören.
Aber wenn es darum geht, einen rabiaten Rassismus zu verbreiten, dann ist ihnen jedes Mittel recht – auch sexuelle Übergriffe zu instrumentalisieren, die man, hießen die Täter Herbert, Stefan und Michael, nicht einmal wahrnehmen würde. Diese rechten Hetzer_innen sind rassistische Antifeminist_innen und können nie Verbündete in feministischen Kämpfen sein. Denn sexualisierte Gewalt ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal von Männern mit Migrationshintergrund.
Nicht das Feld überlassen. Gleichzeitig ist es mehr als betrüblich, wenn Linke zu so einem Ausmaß an Gewalt schweigen. Nein, das ist kein Vorfall, den halt „die Behörden klären müssen“, oder über den wir uns nicht so aufregen sollten, wie etwa Jakob Augstein – Chefredakteur bei der linksliberalen Wochenzeitung „Freitag“ – prominent über seine Social-Media-Seiten verlautbarte. Das würden wir bei rechtsextremer Gewalt doch auch nie sagen? Auch weil Justiz und schon gar nicht Polizei oder Verfassungsschutz (die alle drei keine neutralen Institutionen sind) eine Debatte ersetzen können, schon gar keine linke, antifaschistische, antirassistische und feministische.
Das zeigt sich auch in den abstrusen Verhaltenstipps wie eine Armlänge Abstand zu halten oder nachts nicht auf die Straße zu gehen. Selbst, wenn das vereinzelt sogar unterstützend gemeint sein sollte, so macht es sexuelle Gewalt zu einem Problem der Opfer, nicht der Täter.
Im Gegenteil: Es ist wichtig, hier den Rechten nicht das Feld zu überlassen. Denn ihr Feminismus ist geheuchelt. Das muss aber auch jemand klarstellen. Ein Antirassismus, der sexuelle Übergriffe mit einem Schulterzucken abtut oder sogar die Täter noch verteidigt und Verschwörungstheorien spinnt, ist schlicht unbrauchbar. Ein Feminismus, der mit Rechten fraternisiert und sexuelle Gewalt als Problem mit Migrationshintergrund sieht, ist ebenso unbrauchbar. Sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen geht aber nur, wenn man stolz, offensiv und mit voller Solidarität aufeinander Bezug nimmt. Es funktioniert nicht, wenn man aus falsch verstandenem Antirassismus Täter in Schutz nimmt. Es funktioniert nicht, wenn man rechte Forderungen nachplappert.
Alte feministische Forderungen. Es muss klare, harte Strafen für Täter geben. Es muss Betroffenen vonseiten der Institutionen geglaubt werden. Es müssen Einrichtungen ausfinanziert werden, die sich um Betroffene kümmern (Frauenhäuser, Helplines – in verschiedenen Sprachen, für Betroffene mit verschiedenen Bedürfnissen). Es muss Ärzte und Ärztinnen geben, die wissen, wie sie mit Betroffenen umgehen. Es muss für das Thema sensibilisierte Polizist_innen geben, die Betroffene nicht auslachen und wegschicken. Es muss die Möglichkeit geben, schnell und anonym die „Pille danach“ zu bekommen. Es muss die Möglichkeit auf Schwangerschaftsabbruch geben, ohne horrende Kosten oder Distanzen.
Es muss aber auch klar sein, dass die Strafe für Täter einheitlich ist. Die Forderung nach Separatstrafen für Täter mit Migrationshintergrund ist rassistische Hetze. Abschiebungen für Täter sexueller Gewalt zu fordern ist Nonsens – denn wohin sollten wohl all die vielen Täter ohne Migrationshintergrund abgeschoben werden?
Hören wir doch auf, betreten zu schweigen, wenn es Vorfälle wie diese gibt. Diese selbst gewählte Defensive bringt niemandem etwas. Gerade weil Feminismus und Antirassismus ohnehin schon unter Beschuss sind. Wir dürfen kein Politikfeld zu Gunsten des anderen aufgeben. Das bedeutet, dass wir über Antirassismus und über sexuelle Gewalt reden müssen.
Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin und Antifaschistin. Sie ist aktiv in der Offensive gegen Rechts und betreibt außerdem den Blog schmetterlingssammlung.net. Dieser Artikel basiert auf einem Artikel für den Blog „Mosaik – Politik neu zusammensetzen“.