Was die Pandemie mit neokolonialer Naturausbeutung zu tun hat. Von Nora Noll
Blondierter Vokuhila, ein Paillettenhemd in Regenbogenfarben, den Kopf liebevoll an einen Tiger gelehnt – an diesem Foto kam man in den vergangenen Wochen nicht vorbei. Es steht für die Absurdität unserer Zeit, dass am 20. März eine Doku-Serie über abgedrehte US-amerikanische Tigerhalter*innen auf Netflix erschien und seitdem für einen Tiger-King-Hype im Internet sorgt, während eine Pandemie die analoge Welt bestimmt. Bilder von überfüllten Krankenhäusern und erschöpften Pfleger*innen scheinen nicht zur selben Welt zu gehören wie die Interviews mit dem größenwahnsinnigen Tigerzüchter. Und doch müssen wir sie zusammenbringen, um mehr über die strukturellen Ursachen der Corona-Pandemie zu verstehen.
Das Fledermausproblem. Mitte Januar wird aus Wuhan die erste Infektion mit dem neuartigen Corona-Virus gemeldet. Neben Graphen, Diagrammen und Prognosen gibt es Spekulationen über den Ursprung des Virus – beziehungsweise über den Moment des Spill-Over, die erste Übertragung von Tier zu Mensch. Als wahrscheinlicher Übertragungsort gilt Wuhans Wildtiermarkt, 27 der 41 erstbehandelten Infizierten hatten laut einer Studie von Medizinier*innen aus Wuhan Kontakt zu dem Markt. Fledermäuse und Schuppentiere weisen sehr ähnliche Viren auf, könnten also Überträger gewesen sein. Dass aber Fledermausfleisch zum Spill-Over führte, ist reine Hypothese.
Eine Hypothese, die rassistischen Narrativen dient. Kaum ist sie in der Welt, häufen sich die Horror-Schlagzeilen: „Chinas Fledermausproblem“, titelt die „Welt“, „Eine Fledermaussuppe und das tödliche Corona-Virus“ die „Bild“, dazu Fotos der Blutsauger und der mitgedachte Vorwurf: Wie kann man denn so etwas essen? „Die eigene Ernährungsweise auf andere Länder zu übertragen, ist Ausdruck rassistischer Deutungsmacht“, sagt Imeh Ituen, Teil des Black Earth Kollektiv Berlin. Sie erkennt darin das Phänomen des Othering: Das, was von der künstlichen Norm abweicht, wird als vermeintlicher Gegensatz ausgeschlossen und abgewertet. Die Norm ist in diesem Fall das „Zivilisierte“, das Unnormale ist „wild“, „gefährlich“ und ganz klar „ekelhaft“. Mit dieser dualistischen Weltsicht ist es einfach, die Schuldigen auszumachen.
Wenn die Schuldigen gefunden sind, ist es nicht mehr weit zu rassistischer Gewalt. „Für mich war es absehbar, dass ich mehr Rassismus erfahren werde, aber es hat mich trotzdem hart getroffen“, sagt Thao, Gründerin von DAMN (Deutsche Asiat*innen, Make Noise!). Die Berlinerin erzählt, dass sie beim Einkaufen mit einer Flasche beworfen wurde, dass sie als Virus beschimpft wurde, dass sie sich in der Öffentlichkeit oft gemieden fühlt. Sie ist kein Einzelfall: Berichte von antiasiatischem Rassismus, wie sie zum Beispiel das Onlinemagazin „belltower news“ Tag für Tag sammelt, werden immer mehr.
Systemische Ursachen. Der Fokus auf Wuhans Wildtiermarkt nährt nicht nur rassistisches Denken und Handeln, er lenkt auch ab von den systemischen Ursachen der Pandemie. Wir wissen bisher nicht, wie sich der erste Mensch mit SARS-CoV2 angesteckt hat. Aber wir wissen: Epidemien durch sogenannte zoonotische Übertragungen häufen sich. Allein im 21. Jahrhundert hatten wir es mit Ebola, der Vogelgrippe, der wiederkehrenden Schweinepest, den Atemwegssyndromen MERS und SARS durch Corona-Viren, dem Rift Valley-Fieber und dem Zika-Virus zu tun – ausgelöst durch krankmachende Erreger, sogenannte Pathogene, die von Tieren stammen. „Man braucht kein Experte sein, um zu merken, dass hier die wachsende Nähe von Wildtieren zu domestizierten Tieren und Menschen eine Rolle spielt“, sagt Georg Scattolin, Artenschutzexperte des WWF Österreich. Der Verein fordert deshalb stärkeres Vorgehen gegen unregulierten Wildtierhandel, um das Risiko bei Jagd, Handel und Konsum einzuschränken sowie bedrohte Arten zu schützen. Erst durch mangelnde Diversität könnten Pathogene sich ausbreiten – das Eindringen von Menschen in den Lebensraum erhöhe dann die Wahrscheinlichkeit einer Zoonose. „Der Hinweis, dass wir unsere Erde nicht beschädigen sollten, ist nicht neu. Jetzt hat er eine traurige Aktualität bekommen.“, sagt Scattolin.
Big Farms. „Wir“ sollten die Erde nicht beschädigen – aber es sitzen nicht alle im selben Boot. Die Diskrepanz zwischen denen, die Verantwortung tragen, denen, die schuldig gesprochen werden, und denen, die am stärksten betroffen sind, ist enorm. Rob Wallace, ein linker Biologe, zeigt in seinem Buch „Big Farms make Big Flu“ am Beispiel von Ebola, wie die Agrarindustrie am Ausbruch der Krankheit von 2013 beteiligt war: Großflächige Rodungen durch internationale Konzerne, um in Guinea Macadamia- und Palmplantagen anzulegen, zerstörten den Lebensraum von Fledermäusen. Die siedelten sich daraufhin in den Plantagen an und hatten so direkten Kontakt zu den Menschen.
„Abholzung ist gerade auf dem afrikanischen Kontinent und in Südamerika mit Kolonialismus verbunden,“, sagt Imeh Ituen. „Es wurde abgeholzt, um Platz zu schaffen für Plantagen und für Minen und heute für die industrielle Landwirtschaft.“ Neben der Naturausbeutung kommt die Massentierhaltung als weiterer Risikofaktor dazu, ebenso ein Symptom des überbordenden Konsums im globalen Norden, das in den globalen Süden importiert wurde. „Massentierhaltung ist darauf ausgerichtet, die Super-Kuh oder das Super-Schwein zu züchten. Du hast nur eine Sorte, und wenn dieses eine Genom von einer Schweinepest befallen wird, hast du einen unglaublichen Herd“, sagt Scattolin vom WWF. Welcher dieser Faktoren nun für die Verbreitung des neuen Corona-Virus relevant war, lässt sich noch nicht sagen. Die Übertragung muss aber an einem Punkt dieses kapitalistischen Produktionsprozesses stattgefunden haben: Industrielle Expansion drängt gejagte Tiere in bislang unberührte Natur, wo unbekannte Pathogene auf sie warten, die sie wiederum auf Menschen oder Zuchttiere übertragen können, denen sie früher oder später begegnen, wenn ihr Lebensraum weiter schrumpft. Und so weiter.
Doppelmoral. Genau wegen dieser Komplexität ist Ituen gegen ein generelles Verbot von wet markets, Märkten, auf denen Tiere lebend verkauft werden. Schließlich fehle es gerade in ländlichen Regionen ohne Stromversorgung, Supermärkte und entsprechende finanzielle Ressourcen an nötigen Alternativen. Ein Verbot von wet markets und lokalem Wildtierhandel entspringe auch einer rassistischen Doppelmoral: „Wer bestimmt denn, was gegessen werden darf oder nicht, und wessen Ernährung als Gefährdung dargestellt wird? Woher kommt denn hier das Stück Fleisch im Kühlregal? Womit wurde das Tier gefüttert?“ Ituen bezieht sich einerseits auf den enormen ökologischen Fußabdruck, der durch Abholzung für Futtermittel, Kühlketten und Transportwege, sowie enorme Lebensmittelverluste im gesamten Prozess entsteht. Gleichzeitig erinnert sie an die Rinderseuche BSE in den 2000ern, ausgelöst durch die Verfütterung toter, kranker Tiere, an der tausende Kühe starben und die zeitweise auch für Menschen eine ernsthafte Bedrohung darstellte. Entscheidend sei es, das landwirtschaftliche System zu hinterfragen, das immer wieder solche Erreger produziert.
Wie die Verantwortung lasten auch die Folgen nicht auf allen Schultern gleich. Die Corona-Pandemie trifft schon jetzt marginalisierte und von Diskriminierung betroffene Bevölkerungsgruppen mit am stärksten. In den USA zeigt sich das drastisch an den Todeszahlen: In Chicago sind siebzig Prozent der Toten Schwarz, obwohl sie nur dreißig Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen. Menschen in Deutschland, die als südostasiatisch wahrgenommen werden, haben zusätzlich zum Alltagsrassismus mit struktureller Benachteiligung zu kämpfen – Thao von DAMN denkt an Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus oder in prekären Verhältnissen. „Es ist auch eine rassistische Krise“, sagt Ituen. Die Brüche in der Gesellschaft zeigten sich noch stärker als sonst.
Und so kommen wir schließlich wieder zu den Tiger Kings dieser Welt, die mit ihrer Sucht nach Extravaganz den internationalen Wildtierhandel befeuern. Da geht es nicht um Grundversorgung, da geht es um Luxus. Europa stelle dabei laut Scattolin eine massive Drehscheibe dar, „es wird immer wieder afrikanisches Elfenbein aufgegriffen“, in Prag boome der Tigerhandel. Allein in den USA leben etwa 5.000 bis 10.000 Tiger hinter Gittern. Freie Tiger gibt es weltweit noch um die 4.000.
Nora Noll arbeitet als freie Journalistin und studiert Literaturwissenschaft in Berlin. Für die Isolationszeit hat sie sich ins bayerische Hinterland zurückgezogen und schreibt von dort über das Draußen.