Drei Generationen sind begeistert: „Die rote Zora und ihre Bande“
Der rote abgegriffene Buchband ist seit nunmehr sechzig Jahren in unserem „Familienbesitz“. Meiner Mutter wurde das Buch von ihrer Hauptschullehrerin in den biederen 1950er-Jahren empfohlen. Das war eine aufgeschlossene, fortschrittliche Frau, die sich gegen sinnlose patriarchale Regeln wehrte. „Die rote Zora und ihre Bande“ legte sie allen ihren Schülerinnen ans Herz. Ein so starkes Mädchen wie die Bandenführerin Zora war ein seltenes Rolemodel in dieser Zeit.
Mein achtjähriger Sohn, eine kleine Leseratte, hat das Buch vor kurzem verschlungen – so wie ich damals in diesem Alter. In keinem anderen Buch sei ein Mädchen den Buben so gleichgestellt, sagt er. Zora ist völlig ebenbürtig, ohne dass dies als etwas Besonderes dargestellt werden würde. Dieses Buch ist für Buben genauso spannend wie für Mädchen. Das kann mein Sohn von den neuen Kinderbüchern, die er geschenkt bekommt, nicht sagen. Mal abgesehen von den Fachbüchern, die Kinder über die Entdeckungen und Erfindungen der Weltgeschichte lehren sollen – ohne auch nur irgendwelche Erfinderinnen und Entdeckerinnen zu erwähnen.
„Die rote Zora und ihre Bande“ bringt noch immer den Klassenkampf ins Kinderzimmer, und Zora stellt als Bandenchefin völlige Gleichberechtigung in ihrer Gruppe her. Ein kleines Detail am Rande: Der Autor des Buches, Kurt Kläber, schrieb das Buch 1941 unter dem Pseudonym Kurt Held. Sein erstes Kinderbuch gab er unter dem Namen seiner Frau, Lisa Tetzner, heraus. Es passt zur Geschichte des Buches, dass ein Mann unter dem Namen seiner Frau schreibt, die schon vor ihm eine anerkannte Kinderbuchautorin war.
Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande, Carlsen 2001
Susita Fink ist Theaterwissenschaftlerin und macht politisches Theater auf Wiens Straßen. www.theaterfink.at
Viele Geschichten in einer: „Das kleine Hokuspokus“
Die Hexe Hokus und der Zauberer Pokus langweilen sich. So kommen sie auf die Idee, ein Kind zu haben. Sie hexen hin und zaubern her, und als sie alle Zaubereien zusammenmixen, wird draus allerhand, bloß kein Kind. Der Rabe vermittelt ein Ei, so zaubern sie Babykleidung in Rosa und Hellblau, viel Zeugs in beiden Farben, wünscht sich doch die Hexe ein Mädchen, so wie sie selbst, nur kleiner, während sich der Zauberer Pokus einen Sohn wünscht. Das Kind, das schließlich aus dem Ei schlüpft, zieht sich beides an und hat gar keine Lust, sich zu entscheiden. Während sich das Leben im Zauberhaus um den Kinderwunsch dreht, ständig gestritten und schließlich das Kind sehnsüchtig erwartet wird, passieren in allen Ecken des Buches weitere Dinge: der Besuch der Mäuse, die eine Hochzeit feiern wollen und dabei einen waghalsigen Abstieg wagen; die Eulenfamilie, der plötzlich ein rosa Elefant in der Wohnstube zu einer stattlichen Summe Geld verhilft und aller Armut ein Ende setzt, und schließlich die Insekten- und Spinnenparty, die erst am Ende so richtig losgeht und in einem Totalabsturz mündet. Das Buch ist witzig und weise, viel(ge)schichtig, der Text von Mira Lobe der emanzipatorische Erzählstrang. Auch ohne Text gibt es viele kleine Geschichten zu entdecken, die Kinder allein erzählen (können), lange bevor sie selbst lesen können.
Mira Lobe (Text), Winfried Opgenoorth (Illustration): Das kleine Hokuspokus, Jungbrunnen Verlag 1988
Ulli Weish, Aktivistin der „Plattform 20.000 Frauen“, Mutter von Rosa (8) und Luise (6)
Kinder, Drachen, Königinnen: „Lang lebe Prinzessin Pfiffigunde“
Babette Cole thematisiert mit „Lang lebe Prinzessin Pfiffigunde“ aka „Princess Smartypants“ das Thema Kinder bekommen, versorgen und erziehen. Hier gänzlich ohne Vater. Muss ja auch nicht sein, mischt sich Pfiffigunde doch ihr Kind aus einer Backteigmischung selbst zusammen und wird zur Alleinerzieherin. Auf Coles coole Manier erzählt das Buch die Geschichte von Prinzessin Pfiffigunde, einem Mädchen, das zunächst die Sehnsucht nach einem Kind packt. In rasanten Bildern mit Drachen, Kollaborateurinnen, Kindesentführern und mit einer Königin Mutter auf Reisen merkt sie aber bald, „dass es einfacher ist, das Königinnenreich in den Griff zu bekommen als das Baby“. Es wäre nicht Prinzessin Pfiffigunde, hätte sie da nicht eine smarte, pfiffige Idee: Erziehungsarbeit kann auch delegiert werden.
Babette Cole: Lang lebe Prinzessin Pfiffigunde, Carlsen Verlag 2005
Barbara Tinhofer arbeitet als Kindergartenpädagogin in Wien und ist Bilderbuchleserin.
Aufs „Anderssein“ reagieren: „Alice im Mongolenland“
Als ich meiner Tochter im entsprechenden Alter meine Kinderbuchklassiker zum Lesen anbot, dachte ich noch, dass sie in meine literarischen Fußstapfen treten würde. Doch weder „Hanni und Nanni“ noch „Blitz, der schwarze Hengst“ mit all seinen Fortsetzungsbänden stießen bei Pauline auf Gegenliebe. Wohl nur um mir einen Gefallen zu tun, hat sie die ersten Bände angelesen, um dann recht bald zu ihren eigenen Geschichten zurückzukehren. Dass es tatsächlich interessantere und anspruchsvollere Kinderliteratur gibt, zu dieser späten Erkenntnis kam ich erst, als ich begann, Kinderbücher zu rezensieren.
Unter all den tollen Geschichten hat es uns besonders „Alice im Mongolenland“ angetan: Eine Mischung aus Reisebericht über die Mongolei, Abenteuerroman und Liebesgeschichte inklusive einer Portion Gesellschaftskritik. Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt Ulrike Kuckero die Geschichte von Alice, einem Mädchen mit Trisomie 21 („Down-Syndrom“), und ihrer Familie, die sich häufig mit beleidigenden Reaktionen seitens ihrer Mitmenschen herumschlagen müssen. Auf ihrer gemeinsamen Reise durch die Mongolei – Alice will die Ferien unbedingt dort verbringen – erleben sie einen ganz neuen und positiven Umgang mit dem „Anderssein“.
Immer wieder mal taucht Pauline in diese Geschichte ein, begleitet diese Menschen auf ihrer Reise und erfährt, welche Konsequenzen eine diskriminierende Bemerkung haben kann. Sie erlebt die ersten Verliebtheitsgefühle zwischen Zoe und Bayaraa und bekommt Einblick in ihr fremde religiöse Rituale. Klingt exotisierend – ist es auch. Und möglicherweise der einzige Kritikpunkt an diesem sonst empfehlenswerten Buch.
Ulrike Kuckero: Alice im Mongolenland, Thienemann Verlag 2009
Svenja Häfner wird in ihrem nächsten Leben Eisprinzessin. Bis es allerdings soweit ist, schmökert sie noch in einigen Büchern und erfreut sich an der Leseleidenschaft ihrer Töchter.
Von der Peripherie ins Zentrum: „A Letter to Amy“
Dass die meisten Kinderbücher ein mehrheitgesellschaftsbezogenes und konservatives Bild der Welt darstellen, lässt sich nur allzu schnell feststellen. Was bleibt also Eltern, die diesem Bild auf die eine oder andere Art nicht entsprechen oder damit nicht einverstanden sind, übrig? Eine Zeit lang kann man noch auf Tierbücher ausweichen, auch Pirat_innen-Geschichten sind oft eine gute Alternative (Schiffreisen in „Übersee“ können allerdings heikel sein …). Doch irgendwann muss man über den deutschsprachigen Tellerrand blicken: Eine meiner Entdeckungen stammt aus dem bezeichnenden Jahr 1968, heißt „A Letter to Amy“ und wurde von Ezra Jack Keats geschrieben. Protagonist Peter ist im frühen Volksschulalter und will Amy zu seiner Geburtstagparty einladen. Sie ist ihm besonders wichtig, aber „what will the boys say?“ Schließlich rennt er doch mit der Einladung zum nächsten Briefkasten. Was dann passiert, werde ich hier nicht verraten …
Ist es wichtig zu sagen, dass Peter und Amy als schwarze Kinder in einer (US-amerikanischen) Großmetropole aufwachsen? Für die Geschichte ganz und gar nicht, für mich als Vater eines schwarzen Kindes allerdings schon. Diese Relevanz war auch dem Autor Ezra Jack Keats sehr klar. Geboren in einer in die USA ausgewanderten Familie polnischer Jüd_innen entschloss er sich dazu, marginalisierte Kinder zu Hauptcharakteren in seinen Büchern zu machen. Die unglaublich schön gezeichnete Serie mit Peter umfasst insgesamt sieben Bände.
Ezra Jack Keats: A Letter to Amy, Harper & Row 1968
Paweł Kaminski ist Vater von Femi (3) und als Medienpädagoge und Mitarbeiter von ORANGE 94.0, dem Freien Radio in Wien, täglich mit emanzipatorischen Medienpraxen beschäftigt.
Emanzipierte Väter im Meer: „Herr Seepferdchen“
„Herr Seepferdchen“ von Eric Carle stellt uns meeresbewohnende Väter vor, die Verantwortung übernehmen: Herr Seenadel zum Beispiel trägt die von seiner Frau gelegten Eier, am ganzen Bauch entlang geklebt, mit sich, Herr Katzenwels passt auf die bereits geschlüpften Kleinen auf, und wenn schließlich auch die Seepferdchen-Babys aus der schützenden Bauchtasche ihres Papas schwimmen, ergeben sich inspirierende Gespräche über Familienformen und Paparolle. Besonders super für Buben ab drei Jahren, weil das Buch Identifikationsmöglichkeiten mit positiven Vätervorbildern bietet. Herr Seepferdchen hat für jeden von ihnen aufmunternde Worte! Im bekannten Malstil des Autors hat das Buch ein sehr ansprechendes Layout, mit durchsichtigen, bunten Zwischenseiten.
Eric Carle: Herr Seepferdchen, Gerstenberg Verlag 2004
Kristina Botka ist Politikwissenschaftlerin und Elementarpädagogin.
Weitere Buchempfehlungen gibt es ab 7. Juni auf www.migrazine.at.