Ich weiß, wie es ist, in einem Land zu leben, das von Sanktionen betroffen ist. Meine Mutter war im Irak der Neunzigerjahre auf Spenden ausländischer Verwandter angewiesen, um uns Kinder ernähren und unsere Familie über Wasser halten zu können.
Wir wissen genau, was mit einer isolierten Gesellschaft passiert, in der nicht nur die Menschen, sondern zwangsläufig auch jede progressive Bewegung ausgehungert wird, bis nur noch Not und Verzweiflung übrig sind.
Die Welt ist zu Recht empört über Putins Angriffskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, und versucht mit Spenden, Demonstrationen und eben auch mithilfe von Sanktionen ihre Solidarität mit der Ukraine auszudrücken. Seit Tag eins des Krieges steht für den Westen fest: Sanktionen gegen Russland müssen in aller Härte her. Eine andere Lösung, den Krieg aufzuhalten, gäbe es nicht. Wie es der russischen Zivilbevölkerung ergeht, die mit den Sanktionen (über)leben muss, wird vollkommen vernachlässigt. Doch die gesellschaftlichen Folgen wirtschaftlicher Sanktionen sind verheerend.
Im Jahr 1990 annektiert der Irak unter Saddam Hussein das benachbarte Kuweit, woraufhin die Vereinten Nationen Wirtschaftssanktionen gegen die irakische Zivilbevölkerung verhängen. Diese Sanktionen sollten die härtesten in der bisherigen Geschichte werden und dauerten in einigen Teilen weit über zwölf Jahre. Zum Höhepunkt des Embargos fallen beinahe hundert Prozent der Ex- und Importe aus. Die Mittelschicht verarmt und durchschnittliche Monatsgehälter reichen gerade einmal für zwei Dutzend Eier aus. Viele Lebensmittel, Medikamente, Verhütungsmittel, medizinisches Equipment und Menstruationsprodukte gibt es für die breite Bevölkerung nicht mehr. Die Erfüllung von Grundbedürfnissen wird zum Privileg.
Das „Ärzteblatt“ berichtet, dass zu Zeiten des Irak-Embargos täglich 250 Menschen durch die direkten Folgen der Sanktionen sterben, 32 Prozent der Kinder an chronischer Unterernährung leiden und jedes achte Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreicht.
McDonald‘s, Pepsi, Shell und Co, über dreihundert Unternehmen haben bereits angekündigt, ihre Beziehungen mit Russland zu kappen und ihre Standorte dort zu schließen – das könnte auch aus einer Erzählung meiner Eltern aus den frühen Neunzigern stammen. Ausländische Firmen ziehen weg und hinterlassen ein Chaos aus Armut und Perspektivenlosigkeit.
Sprachlos verfolge ich das euphorische Verlangen nach immer härteren Sanktionen, das so viele erfasst hat: Das Katapult-Magazin teilt einen Beitrag auf Instagram, in dem es deutsche Unternehmen aufzählt, die weiterhin Geschäfte mit Russland machen. Dort lese ich diesen unglaublichen Satz: „Auch Fresenius beliefert Russland weiterhin mit Medizinprodukten und hat sich dagegen entschieden, seine etwa 1.000 Dialysezentren zu schließen.“ Von einem Tag auf den anderen könnten tausend Dialysezentren schließen – die Folgen wären unvorstellbar. Doch genau das wird offenbar gefordert.
Während des Embargos gegen den Irak betrafen die Sanktionen auch medizinisches Equipment und Medikamente. Betäubende Mittel zur Narkotisierung von Patient*innen wurden aufgrund von mangelnder Verfügbarkeit nur gegen hohe Bezahlung ausgegeben. Ärmere mussten ihre Behandlungen oft ohne Narkose durchstehen.
Ausgerechnet die vulnerabelsten Menschen und die marginalisierten Gruppen einer Gesellschaft zahlen stets den Preis für einen Krieg, den sie nicht angefangen haben. Menschen der Unter- und Mittelschicht sowie andere von struktureller Diskriminierung betroffene Personen werden von den Sanktionen mit aller Wucht getroffen. Putin und seine Oligarchen werden einen Weg finden, sich über Wasser zu halten, genauso wie damals auch Saddam Hussein und sein engster Kreis. Wie wäre es also zur Abwechslung mal mit treffsicheren Sanktionen, die gezielt nur die Reichen und Mächtigen zur Verantwortung ziehen?
Gerade jetzt müssen wir auf die Stimmen derer hören, die Krieg, Flucht und Sanktionen erlebt haben. Das trifft nicht nur auf den Irak zu. Auch Menschen aus dem Yemen, Gaza, Iran und Kuba können wertvolle Erfahrungen teilen. Wer härtere Sanktionen gegen Russland fordert, sollte ihnen unbedingt vorher zuhören. •