Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht Rokeya Sakhawat Hossain „Sultana‘s Dream“ – und damit eine der ersten feministischen Science-Fiction-Erzählungen überhaupt. Von MELANIE LETSCHNIG
Wie wäre es, in einer Welt zu leben, in der Frauen das gesellschaftliche und politische Geschehen lenken, während ihre Ehemänner den Haushalt führen? Die Antwort auf diese Frage bildet den Kern einer Erzählung der 1880 im heutigen Bangladesch geborenen Feministin Rokeya Sakhawat Hossain. „Sultana‘s Dream“ erscheint erstmals 1905 im „The Indian Ladies‘ Magazine“. Es ist dies nicht die erste feministische Schrift der Autorin. Ihr gehen politische Essays voraus, in denen Hossain das Recht auf Bildung für Mädchen und Frauen und das Ende ihres Ausschlusses vom sozialen Leben fordert. Rokeya spricht dabei aus einer privilegierten Position, sie ist Tochter aus gutem Hause. Der Besuch einer Schule bleibt ihr und ihrer älteren Schwester Karimunnessa gesellschaftlich bedingt dennoch verwehrt. Dem Engagement der Schwester und der Unterstützung des Bruders Ibrahim Saber ist es zu verdanken, dass Rokeya nicht nur Englisch lernt, sondern auch Bengali – Zweiteres heimlich, nachts, wenn der Rest der Familie schläft, denn muslimische Töchter der Upper Class Nordindiens sind angehalten, stattdessen Urdu, die Sprache der muslimischen Elite, zu pflegen.
„Sultana‘s Dream“ ist die erste fiktionale Erzählung Hossains, die das Leben von Frauen in Indien reflektiert.
Ihr Ehemann Seyd Sakhawat Hossain, Staatsbeamter und einer ihrer ersten Leser, ermunterte sie, ihre sprachlichen Kenntnisse zu verbessern. Die Bedeutung von „Sultana‘s Dream“ reicht dabei freilich weit über eine linguistische Fingerübung hinaus – das ist auch dem Ehemann bewusst. Die Geschichte zeugt von einem hohen Bewusstsein für die konventionellen Missstände, die Frauen in ein gesellschaftliches Korsett zwängen, das sie von einem selbstbestimmten, öffentlichen Leben und männlichen Selbstverständlichkeiten wie Bildung und Arbeit abschnürt.
Welcome to Ladyland. Die Erzählung beginnt mit einer Szene, in der die Protagonistin in ihrem Haus auf einem Sessel sitzend einschläft und sich zunächst in einem luziden Zustand befindet, in dem die Grenze zwischen der noch präsenten Realität und dem bereits einsetzenden Traum verschwimmt: „I am not sure whether Idozedoffornot. But, as far as I remember, I was wide awake.“ Diese Zustandsbeschreibung verweist gleich zu Beginn des Textes darauf, dass dieser Traum, den Sultana durchleben wird, geknüpft ist an das reale Begehren nach einer modernen Gesellschaft wie Ladyland. Ladyland – das ist das Traumland, in das Sultanas Schlaf sie führt. Dort trifft sie auf Sister Sara, die Sultana als freundlich gesinnte Reiseleiterin durch einen Staat führt, in dem die gesellschaftliche Ordnung von Rokeyas Welt auf den Kopf gestellt wird. In der Realität – 1905 in Bhagalpur/Indien – ist das Leben von Frauen gekennzeichnet durch Parda. Mit Parda bezeichnet man in muslimischen Gesellschaften Südasiens den Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit. Frauen, die Parda leben, gehen verschleiert und halten sich in der Zenana, dem inneren Teil des Hauses auf – der äußere, offene Teil des Hauses, Mardana genannt, ist den Männern vorbehalten.
In Ladyland verkehrt sich nun die räumliche Zuteilung dieser Ordnung mit allen Konsequenzen. Die Frauen sind sichtbar. Sie bestellen das Land, studieren und sind Wissenschaftlerinnen, machen Politik, während die Männer sich im Haus aufhalten, kochen, putzen, die Kinder großziehen. Diese reine Umkehrung der räumlichen und gesellschaftlichen Zuschreibungen mag im ersten Moment ein wenig platt erscheinen. Auf den zweiten Blick bedient sich Rokeya Hossain allerdings probater narrativer Mittel, um dem binären Tausch den banalen Beigeschmack zu nehmen. Die Rahmenhandlung – Sultana, die in Schlaf und Traum verfällt – gibt einen utopischen Raum vor, in dem die Realität einer träumerischen Wunschvorstellung weicht. Der Traum darf bekanntlich alles, auch politische Verhältnisse verkehren. Dass die Männer freiwillig aus der Öffentlichkeit abtreten, ist in der Erzählung der Gewitztheit der Frauen zu verdanken. Müde vom Krieg lassen sie sich gerne auf das Angebot der Isolation ein. Frauen sind in Ladyland keine Militärs. Ziel ist es, jeden Krieg zu vermeiden. Die Bewohnerinnen würden eher Hand an sich legen, als eine_n politischen Flüchtling auszuliefern. Ladyland wird regiert von einer Königin, unter deren Ägide verfügt wird, dass Mädchen zur Schule gehen, die Verheiratung unter 21 Jahren ist verboten, und zwei Universitäten stehen den Frauen offen. So werden von oberster Stelle alle Voraussetzungen geschaffen, die es den Frauen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Paradiesische Ökologie. Ein wesentliches Element in „Sultana‘s Dream“ sind technische Errungenschaften, die Ladyland zu einem ökologischen Vorzeigestaat machen. Der fundierten Ausbildung der Frauen ist es zu verdanken, dass Erfindungen eingesetzt werden können, die die klimatischen Verhältnisse für eine umweltbewusste Bewirtschaftung nutzen. In Ladyland wird mit Sonnenenergie geheizt, gekocht und Kriegsgerät vernichtet. Zur Wassergewinnung werden an den Universitäten entwickelte Ballons eingesetzt, die mithilfe von Rohren das Wasser über den Wolken abschöpfen und ins Land leiten, um dort Ackerboden und Pflanzen zu bewässern. Die Folgeerscheinungen dieser technischen Progression bewirken, dass es in Ladyland keinen Regen gibt, demzufolge auch keine Naturkatastrophen, genauso wenig wie Epidemien. Die Vorstellung einer Welt, die frei ist von der Bedrohung durch klimatische Unwägbarkeiten, nimmt in Rokeya Hossains Erzählung nicht von ungefähr einen prominenten Platz ein. Indien ist ein Land, das immer wieder von Überschwemmungen und Stürmen heimgesucht wird, die verheerende Folgen für Umwelt und Menschen haben.
Die Religion in Ladyland basiert auf Liebe und Wahrheit. Wer lügt, wird aufgefordert, das Land zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Sultana erfährt all dies durch die Expedition durch Ladyland, bei der ihr nicht zuletzt die freundschaftliche und humorvolle Konversation mit Sister Sara das Herz für die ideologischen Ideen des Staates weit öffnet.
Zurück zur Realität: Ladyland revisited. Hossains Erzählung endet damit, dass Sultana wortwörtlich aus allen Wolken zurück in die Realität fällt, sie erwacht so, wie sie eingeschlafen ist – auf ihrem Sessel in ihrem Zimmer sitzend. Um den Traum ihrer Romanfigur ein Stück realer werden zu lassen, setzt sich Rokeya im Laufe ihres Lebens mit Leidenschaft für das Recht auf Bildung für Mädchen und Frauen ein. 1909 eröffnet sie mit dem Geld, das ihr von ihrem im selben Jahr verstorbenen Ehemann vererbt wird, eine Schule für Mädchen in Bhagalpur. 1911 folgt die Eröffnung der Sakhawat Memorial Girls‘ School in Kalkutta, die immer noch existiert. 1916 gründet sie den Anjuman-e-Khawatin-e-Islam (the Muslim Women‘s Association), eine Organisation, die nicht nur die schulische Bildung höherer Töchter im Sinn hat, sondern sich speziell um die Unterstützung sozial benachteiligter Frauen kümmert.
Melanie Letschnig träumt aktuell von einem Staat ohne Hymnen, in dem Töchterverweigerer nichts zu sagen haben. Sie wäre stolz drauf.
Literatur:
Sultana‘s Dream. A Feminist Utopia and Selections from The Secluded Ones. Edited and translated by Roushan Jahan. Afterword by Hanna Papanek. New York 1988.
Seit 2013 arbeitet die spanische Animationsfilmemacherin Isabel Herguera an einer Verfilmung von Sultana‘s Dream (A Feminist Utopia in Contemporary India), die sie – basierend auf Workshops – gemeinsam mit Frauen in Indien erarbeitet. Nähere Infos: http://euskadi.goteo.org/project/sultana-s-dream?lang=en