Skepsis und Ablehnung gegenüber der Staatsgewalt können viele Gründe haben: Repression, Traumata, das Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Aber können Gewalttaten mit alternativen Methoden bearbeitet und „geklärt“ werden? Von NICOLE SCHÖNDORFER
Ohne Angst vor Konsequenzen den Polizeinotruf wählen zu können, ohne die Vor- und Nachteile abwägen zu müssen, eine Anzeige zu erstatten, ist ein Privileg. Wenn etwa gewaltbetroffene Frauen, Schwarze Personen und People of Color, queere Menschen, Sexarbeiter*innen, Menschen ohne Papiere/Aufenthaltsgenehmigung, Obdachlose oder organisierte Linke die Polizei rufen, bedeutet das nicht automatisch Hilfe, sondern oft Repression, Traumatisierung und Existenzbedrohung. Die Polizei als staatliche Institution verteidigt bestehende Herrschaftsverhältnisse und reproduziert damit Diskriminierung. Als „Freund und Helfer“ kann sie also nur für jene agieren, die das kapitalistische und patriarchale System bejahen und von ihm profitieren. Unterdrückte und Marginalisierte, die vom System ausgeschlossen werden oder sich offen dagegen positionieren, können nicht mit einer Selbstverständlichkeit auf die Gerechtigkeit durch Polizei und Justiz vertrauen.
Patriarchal geprägt. Das System staatlicher Institutionen ist ein männlich geprägtes und durchgesetztes. Es operiert nach den Machtinteressen seiner Akteur*innen und Kompliz*innen. Da kann noch so oft betont werden, dass vor dem Recht alle gleich sind. Ein Rechtsstaat existiert nicht im gesellschaftlichen Vakuum. Das zeigen etwa die Zahlen zu Fällen sexualisierter Gewalt sehr eindrücklich. Sexualdelikte werden in über neunzig Prozent der Fällen von Männern gegen Frauen begangen (nicht-binäre Geschlechter finden keine Erwähnung in der Kriminalstatistik).
Die Verurteilungsrate liegt bei zwanzig Prozent, wobei nur zwanzig Prozent der Vorfälle vor Gericht kommen und nur zehn Prozent der Übergriffe überhaupt angezeigt werden. Es gibt viele Gründe dafür, warum Betroffene nicht anzeigen. Weil sie Angst vor weiterer Gewalt oder vor nicht abschätzbaren Konsequenzen haben. Weil sie nicht wissen, wo sie Unterstützung bekommen. Weil eine ökonomische, emotionale oder psychische Abhängigkeit zur gewaltausübenden Person besteht.
Ein kleinerer Teil der oben erwähnten Dunkelziffer sind Gruppen, die staatliche Gewalt und Straflogik prinzipiell ablehnen und um Alternativen bemüht sind. So wird etwa das Konzept der Transformativen Gerechtigkeit als philosophische Strategie, um Gewalt in eigenen Räumen zu begegnen, erarbeitet und angeboten. Die zentrale Methode ist dabei die Community Accountability – die kollektive Verantwortungsübernahme in der Gruppe. Entstanden ist das Konzept in Communities von queeren Menschen of Color – von Menschen, die Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind und die Ungerechtigkeit des Systems kannten und hinterfragten. Der Staat soll also auch bei körperlicher und sexualisierter Gewalt nicht mehr eingreifen?
Linke Utopien. Kein Knast. Es klingt erst nach einer dystopischen Vorstellung, ist aber in Wahrheit eine linke Utopie mit einer Logik, die nicht nur in Nischen diskutiert wird. Wer antikapitalistische, antisexistische und antirassistische Herrschaftskritik übt, wird am Hinterfragen der neoliberalen Straf- und Haftlogik nicht vorbeikommen. Kritik an Gefängnissen als Institutionen gibt es schon lange – von Philosoph*innen, Jurist*innen, Aktivist*innen, Betroffenen. Wobei auch eine Studie des Deutschen Bundesministeriums für Justiz 2016 zu dem Schluss kam, dass Gefängnisstrafen nicht zur Resozialisierung beitragen und die Wiederbegehungsgefahr erhöhen. Wegsperren, Stigmatisierung und Ausschluss haben sich nicht bewährt. Aber was tun? Das Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft macht sie nicht automatisch zu einer.
„ignite!“, ein Workshop-Kollektiv aus Deutschland, stellt sich genau dieser Frage. Chris, der*die eigentlich anders heißt, ist Teil davon und sagt gegenüber an.schläge: „Wir haben strafendes Denken so tief verinnerlicht, dass wir keine Fakten und Beweise brauchen, um an seine Richtigkeit zu glauben. Der Staat ist bereits eine gewaltausübende patriarchale Institution, die Konflikte von uns entfremdet, mit Strafe beantwortet und so verschärft. Wenn wir gegen Gewalt und für eine freiere Gesellschaft kämpfen wollen, ist sie keine Lösung, sondern Teil des Problems.“
„ignite!“ versteht Gewalt als sozial hervorgerufenes Verhalten, das Repertoire der Transformativen Gerechtigkeit als Werkzeug dagegen. So soll die von der Gewalt betroffene Person unmittelbar und langfristig ein sicheres Umfeld und Unterstützung bekommen, sowie der gewaltausübenden Person Möglichkeiten zur Reflexion und Verantwortungsübernahme abseits der Staatsgewalt geboten werden.
Täter*innen im Mittelpunkt? In der Theorie klingt das gut. In der Praxis müssen Vorfälle stets neu ausgehandelt werden. Im Mittelpunkt steht die Selbstbestimmung der betroffenen Person, alles muss in Absprache mit ihr passieren. „Sie darf nicht unter Druck gesetzt werden, ihre Bedürfnisse und Wünsche müssen klar im Fokus stehen. Wenn eine Zusammenarbeit mit Täter*innen nicht infrage kommt, dann muss das in Ordnung sein“, sagt Chris.
Konzepte mit Grenzen. Marie-Louise erlebte in einer toxischen Beziehung über viele Jahre sexualisierte Gewalt. In ihrem Freund*innenkreis, sagt sie, war es verpönter, die Polizei zu rufen, als sich übergriffig zu verhalten. Sie konnte das, was sie erlebt hat, lange nicht richtig einordnen. Sie war 19, Vergewaltigungen liefen in ihrem Kopf nach einem Muster ab, eine Verlustangststörung tat das Übrige. Ein antisexistisches Bündnis, dem sie nahestand, fing damals an, Community Accountability zu fordern. Sie nahm mit ihrem Ex-Freund an Diskussionen teil, stand aber argumentativ selbst auf der Täterseite. Als Betroffene sagt Marie-Louise über Transformative Gerechtigkeit und Community Accountability gegenüber an.schläge: „Ich weiß nicht, wie sinnvoll das bei sexualisierter Gewalt ist. Ich zumindest wollte im Nachhinein nichts mehr mit dem Täter*innen zu tun haben. Ich wüsste auch nicht, wie er etwas hätte wiedergutmachen können.“
Ihr ist wichtig, das Machtgefälle, das zwischen Betroffenen und Täter*innen bei sexualisierter Gewalt besteht, nicht zu vergessen: „Das verschwindet nicht einfach, wenn der Missbrauch physisch aufhört, und mit Macht kommt der Spielraum zur Manipulation. Abuser sind nicht selten extrovertierte Persönlichkeiten, die Beliebtheit genießen. Missbrauch schränkt auch häufig die Bereitschaft ein, jemandem zu vertrauen. Im Fall der Community Accountability muss aber Vertrauen gegenüber der gesamten Community bestehen.“
Opferschutz. Chris von „ignite!“ weiß, dass das Konzept Lücken hat und es immer wieder die Vorwürfe eines „Täter*innenschutzprogramms“ gibt, findet aber auch: „Konsequente antisexistische Gestaltung von Räumen und Beziehungen kann erlernten Mustern wie Täter*innenschutz bereits vor einem Übergriff das Wasser abgraben. Wir werden nur handlungsfähig gegen die Gewalt, wenn wir beginnen, uns als Gemeinschaften und Gesellschaft zu verändern. Wenn wir die Rückkopplung mit der betroffenen Person ehrlich verfolgen, verhindert dies eine fehlgeleitete Konzentration auf die Täter*innen.“ Das Konzept lehnt die Möglichkeit des Ausschlusses und des Outings von Täter*innen zudem nicht ab.
„Es ist mit Vorsicht zu genießen, wenn es um strukturell verstärkte Macht geht. Es muss noch viel in Richtung Opferschutz ausgearbeitet werden, damit ein verlässliches System entsteht, welches keine Schlupflöcher enthält“, sagt Marie-Louise.
Alternativen zur Straf- und Haftlogik des Staates müssen sich beständig weiterentwickeln, sie sind für einen gesellschaftlichen Wandel unabdingbar. Die Frage könnte am Ende lauten, ob der „klassische“ Weg von Betroffenen über eine Anzeige bei der Polizei anhand der Zahlen und des Risikos der Retraumatisierung und Schuldumkehr ein nachhaltiger ist. Solange die Verhältnisse in Institutionen sowie in zwischenmenschlichen Beziehungen ein Machtungleichgewicht (re-)produzieren, gibt es keine wahre Lösung. Im Idealfall haben bei den Alternativen allerdings die Betroffenen die Fäden in der Hand. Vor Gericht sind sie nur Zeug*innen.
Nicole Schöndorfer ist Journalistin und Podcasterin in Wien.