Ein Besuch im Salon von LAURA MÉRITT: FIONA SARA SCHMIDT traf die Kommunikationswissenschaftlerin, feministische Aktivistin und Sexarbeiterin zum Gespräch über die vielen ersten Male.
an.schläge: Was würden Sie einer jungen Frau für das „erste Mal“ mit auf den Weg geben?
Laura Méritt: Ich würde ihr raten, sich nicht so viele Gedanken zu machen und möglichst unvorbelastet in die Situation zu gehen. Und die Fragen danach, was richtig und was falsch ist, und was dabei passieren soll, nicht so wichtig zu nehmen. Wahrscheinlich würde ich ihr auch das Buch „Frauenkörper neu gesehen“ (1) in die Hand drücken, damit sie ein bisschen Ahnung bekommt, was an Schwellkörpern vorhanden ist, wie der Vogel dann ins Fliegen kommt. Außerdem: Mache nichts, was sich nicht gut anfühlt! Und den Hinweis auf Safer Sex würde ich ihr auch noch mitgeben. Außerdem: Es gibt immer wieder ein erstes Mal. Daher nicht so auf die Initiation fixieren, das hat etwas von Jungfrau-Moral und etwas Ideologisches. Wichtiger ist das Bewusstsein: Du veränderst dich, die Umstände verändern sich, und die Sexualität verändert sich immer wieder, besonders nach wichtigen körperlichen, psychischen und seelischen Einschnitten. Sie ist jedes Mal anders und neu.
Wie war es, beruflich in den Bereich Sex einzusteigen? Sie haben ja mit Sextoys für Frauen in den 1980ern eine Marktlücke entdeckt …
Ich habe nie nach einer Marktlücke gesucht. Ich habe Politik und Kommunikation studiert und mich sehr früh mit feministischer Linguistik auseinandergesetzt: Wie wird überhaupt miteinander geredet, welche Rolle spielen Geschlecht und Machtstrukturen, wie können wir uns daraus befreien zum Wohle aller Geschlechter? Da kommst du zwangsläufig auf das Thema Sexualität: Das Private ist politisch, und Sex das Ureigenste, das Privateste und das Politischte, das du dir von allen Seiten ansehen kannst.
Ich habe damals begriffen, dass Sexualität ein explosives Thema ist, das ich gesellschaftlich einbetten und politisch praktizieren wollte. Anfangs bin ich mit meinem Köfferchen rumgezogen, aber ich habe nie nur Toys verkauft – die Informationen waren immer das Wichtigste. Alles, was sich in der Sexualität anbietet, ist Spiegel der Gesellschaft. Wir betreiben zum Beispiel auch einen lesbischen Escort-Service: von Massagen über Verwöhnung bis hin zu Begleitung. Das bewerben wir nicht offensiv, es ist ein Punkt in der Palette. Es geht uns nicht um Marktlücken, die wir stopfen müssen, sondern um die respektvollen Bedingungen, die wir haben.
Mein Laden „Sexclusivitäten“ wird immer ein politischer sein. Mich interessiert nicht, welche Farbe Toys haben, mich interessiert der Hintergrund und das wird hier vermittelt. Natürlich verkaufe ich hochwertige Toys und lege Wert darauf, keine überflüssigen Verpackungen, Bestseller und Labels zu verkaufen.
Haben Sie Tipps für Frauen, die sich erstmalig an Sexspielzeug heranwagen?
Ich versuche mit Kund_innen gemeinsam herauszufinden, ob es eher ein Dildo oder Vibrationen sein sollen, ich frage die Leute ziemlich viel und unterstütze, ich möchte ihnen nichts überstülpen. Ich zeige ihnen, wie was funktioniert und wie hochwertiges Material aussieht. Schrecklich finde ich Aussagen bei herkömmlichen Präsentationen von Toys: „Das ist der, der am besten geht.“ So etwas ist absurd und marktgesteuert. Wir organisieren auch Sexpartys, bei denen die häufig sehr teuren Sachen alle ausprobiert werden können.
An wen wendet sich Ihr „Freitagssalon“ (2) und worum geht es bei den wöchentlichen Treffen?
Wir machen seit 24 Jahren hauptsächlich Kommunikation. Der Salon ist ein Ort des Austauschs, wo du lernen kannst, im besten Sinne über Sexualität zu reden. Neue Teilnehmer_innen können zwanglos erst einmal zuhören, ich erzähle ja auch immer sehr frei. Wenn du dich wohlfühlst, kannst du so viel erzählen, wie du magst oder kannst.
Die Teilnehmer_innen sind im Alter von 18 bis über siebzig. Es ist toll, dass sich der Salon so intergenerationell entwickelt hat, da können alle viel voneinander lernen. Mittlerweile ist der Abend offen für alle, mit den cis-Jungs ging es lange nicht so gut, aber jetzt geht auch das. Ich nehme an, dass die starke Trans*Bewegung einen guten Einfluss auf die cis-Buben hat. Der Salon hier ist eine Brutstätte, ein „Freudefluss-Netzwerk“ für verschiedenste Aktionen und Projekte.
Wie verändert sich der Blick der Frauen auf ihren Körper in Ihren Workshops zur Selbstuntersuchung?
Das Tolle an diesen Gruppenerfahrungen ist, dass du über den eigenen Vulva-Rand hinausblicken kannst und siehst: Da sind so viele schöne andere, das sieht alles unterschiedlich aus! Diese Erkenntnis stärkt die Frauen und ihr Körperbewusstsein. Diese Genauigkeit, mit der sie sich ansehen, macht extrem viel aus, um von Normen wegzukommen. Viele sind ja oft sich selbst und anderen gegenüber sehr streng.
Im Oktober wird zum dritten Mal der von Ihnen initiierte PorYes Award (3) verliehen – was sind die Auswahlkriterien für die Pornofilme?
Die Preisverleihung findet alle zwei Jahre statt und ist aus dem Wunsch nach positiven Bildern erwachsen. Wir sind als sex-positive Bewegung parallel zur PorNo-Kampagne entstanden, denn wir brauchen auch einen positiven Zugang zu Sprache, Bildern und Verhaltensweisen. Wir stellen vier bis fünf Filmschaffende oder Produktionen vor, unterschiedliche Richtungen und Generationen sind dabei ganz wichtig. Nach der Veranstaltung hast du Namen und Bilder kennengelernt, die anders sind. Außerdem werden nicht nur aktuelle, sondern auch ältere Filme präsentiert, und dieses Jahr ist zum ersten Mal auch ein Mann als Regisseur dabei. Und alle bekommen einen Preis, es gibt keine Hierarchie.
Wie kam es zur Ausrufung des ersten Hurentags in Berlin in den 1980ern?
Wir waren eine kleine Gruppe vom eigennützigen Verein „Nutten und Nüttchen“. Der Internationale Hurentag geht auf den 2. Juni 1975 zurück: Weil es in Frankreich so viel Gewalt gegen Prostituierte gab, wurde in Lyon eine Woche lang eine Kirche besetzt und der Hurenstreik ausgerufen. Das war die Geburtsstunde der Hurenbewegung. Heute gibt es auf der ganzen Welt viele sehr aktive Hurengruppen. In Berlin haben wir 1989 in der Oranienburger Straße eine Trabi-Parade gemacht und auf der Straße Diskussionen angeregt, auch der Bürgermeister und die Gleichstellungsbeauftragte waren dabei. Wir sprachen über selbstbestimmte Bedingungen für Sexarbeiterinnen nach der Wende, und wie wir diese schaffen können.
In einer Großstadt wie Berlin findet sich für jede Spielart von Sexualität eine Möglichkeit, sie auszuleben, zumindest theoretisch ist alles möglich. Spielt das „Outing“ da noch eine große Rolle?
Das eigene Outing ist sicher das Emotionalste, und es kann ja auch verschiedene Outings in einem Leben geben. Es existieren noch viele Normen, deswegen kommen so viele Menschen nach Berlin. Hier herrscht eine große Freiheit und die Möglichkeit, Räume für nicht-kommerzielle Projekte und eigene Erfahrungen zu bekommen. Hier kannst du dir Kraft holen und dann sagen: „Das ist für mich jetzt normal.“ Das ist der Effekt einer Community: sich gegen Ängste, die man gegenüber Eltern, Familie und Arbeit hat, zu stärken und selbstbewusst zu werden, um das Leben nach den eigenen Vorstellungen zu führen.
Es gibt viele Begriffe für sexuelle Identitäten, Sie streben eine Auflösung dieser Zuschreibungen an. Warum?
Neulich ging es im Salon um die Kategorie „girlfag“, eine neue Bezeichnung für Frauen, die sich als schwule Männer fühlen. Wozu aber eine weitere Kategorie? Es könnte eine Strategie sein, mit dem Dualismus umzugehen, also immer mehr Kategorien aufzumachen, bis alles zusammenbricht. Die andere Strategie ist, klar zu machen, dass Kategorien nur ein Behelf sind, dass wir sie nicht brauchen und Identitäten letztendlich fluide sind. Hier im Salon wir nicht gefragt: „Bist du schwul, bi, trans, hetero, LGBT …?“ Wenn wir über Sexualität reden, dann spricht jede über ihre eigene. Es wird nicht gewertet, nicht normiert. Dann fällt dieses Thema schon von alleine weg und wird immer weniger wichtig. Diese Auflösung oder Aufhebung ist enorm erleichternd.
Laura Méritt promovierte im Fachbereich Philosophie der Freien Universität Berlin zum Thema „Lachen der Frauen“, gründete den Verein „Nutten & Nüttchen e.V.“ und den lesbischen Escort-Service „Club Rosa“. Sie ist die Betreiberin von „Sexclusivitäten“ und gibt Seminare und Workshops.
Fußnoten:
(1) Laura Méritt (Hg.): Frauenkörper neu gesehen: Ein illustriertes Handbuch. Orlanda Frauenverlag 2012
(2) www.sexclusivitaeten.de
(3) www.poryes.de
1 Kommentar zu „Über den eigenen Vulva-Rand hinausblicken“
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