Das Private ist politisch! Aber was heißt das in Zeiten, in denen virtuelle Realitäten, Smart Homes und Zoom-Konferenzen die Grenze zwischen öffentlich und privat zunehmend verwischen? Von Lea Susemichel
2017 ging ein Video viral, das einen BBC-Reporter zeigte, dessen Kinder in eine Liveschaltung platzten, und sorgte weltweit für Erheiterung. Inzwischen sind Kinder, die während der Zoom-Konferenz im Hintergrund Faxen machen, so alltäglich geworden, dass sie uns kaum noch ein Schmunzeln abringen. Der Sprung vom Privaten ins Öffentliche, vom Schlafzimmer auf Sendung, vom Sofa auf die Party in der virtuellen Parallelwelt, vom Küchentisch ins Klassenzimmer ist im vergangenen Jahr zur Normalität geworden.
Wie lässt sich diese Entwicklung aus feministischer Perspektive analysieren? Ist sie die überfällige Umsetzung des feministischen Diktums „Das Private ist politisch“? Offenbart der Blick in unsere Privatsphäre, was dort so alles im Argen liegt, und macht es endlich öffentlich und veränderbar? Oder dringen weiterhin nur (Video-)gefilterte Bilder nach draußen? Verstärkt die durch die Pandemie erzwungene neue Häuslichkeit traditionelle Arbeitsteilungen und Asymmetrien sogar? (Worauf leider vieles hindeutet.) Ist zumindest der Austausch mit anderen durch die digitalen Kommunikationsformen niederschwelliger geworden, gerade auch für Menschen mit Betreuungspflichten? Ist die Kommunikation egalitärer, seit alle auf die gleiche Kästchengröße zusammengeschrumpft sind? Oder handelt es sich bei den pandemiebedingten Veränderungen vielleicht nur um quantitative, nicht aber um qualitative? Schließlich kann auch jeder Social-Media-Post als medialer Grenzgang zwischen privat und öffentlich verstanden werden. Und auch Homeoffice war, mal ganz abgesehen von der Care-Arbeit zu Hause, für viele Frauen auch vor Corona längst schon Alltag. Lohnarbeit als Präsenzarbeit, die lange Zeit vor allem Männer in der Fabrik oder im Büro verrichteten, um dann für ihre Freizeit in ihr privates Zuhause zurückzukehren, war historisch eher die Ausnahme als die Regel. Hausarbeit mussten und müssen Frauen überall auf der Welt hingegen häufig mit häuslicher Erwerbsarbeit verbinden, sei es die „Telearbeit“ mit der Nähmaschine in der Zimmerecke, landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft oder informelle Dienstleistungen.
Anhand all dieser offenen Fragen zeigt sich: Die Grenzziehung zwischen privat und öffentlich ist sehr komplex – und äußerst ambivalent sind zumeist auch geschlechtsspezifische Grenzverschiebungen zwischen den beiden Sphären.
Oikos & Polis. Die Philosophin Seyla Benhabib war dennoch überzeugt: „Einer der wichtigsten Beiträge feministischen Denkens zur politischen Theorie in der westlichen Tradition besteht darin, dass Frauen die Trennung zwischen ,öffentlich‘ und ,privat‘ infrage gestellt haben.“ Denn diese Unterscheidung hatte fatale Folgen. Seit der Antike wurde der oikos, der häusliche Bereich, dem öffentlichen Leben, der polis, gegenübergestellt. Dieser Dualismus bedingte, dass Frauen „feminisiert und entmächtigt“ wurden, schreibt die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer: „Die der Öffentlichkeit zugeschriebenen Personen wurden maskulinisiert und ermächtigt. In der Familie ‚privatisierte‘ Personen erfahren oft keinen Schutz vor staatlichem, aber auch keinen durch staatlichen Zugriff: Abtreibung und Gewalt in der Ehe sind Beispiele solch selektiver ‚Schutz‘-Mechanismen.“
Die feministische Kritik gegen familiäre Privatisierung richtet sich dementsprechend nicht nur dagegen, dass Frauen aus politischen Prozessen ausgeschlossen waren, sondern sie zielte immer auch darauf ab, dass das Private dem öffentlichen Blick und der politischen Kontrolle entzogen war. Nicht zuletzt daraus resultiert auch die feministische Skepsis angesichts einer allzu euphorischen Forderung größtmöglicher Freiheitsrechte. Schließlich ist es nicht allzu lange her, dass es als Privatsache galt, die Ehefrau zu vergewaltigen und die Kinder zu verprügeln. Zudem geht der liberale Einsatz für Persönlichkeitsrechte oft Hand in Hand mit neoliberalem Privatisierungseifer. Privatheit, die dann als „staatsfreier Raum“ definiert wird, meint in diesem Fall die freie Marktwirtschaft, die dem öffentlichen, sprich staatlichen Sektor entgegengesetzt wird. Neoliberale Privatisierungen verwandeln öffentliche Güter in Privateigentum und reprivatisieren zugleich wohlfahrtstaatliche Aufgaben. Frauen trifft das härter, sind sie doch auf staatliche Infrastruktur und Transferleistungen viel stärker angewiesen. Und sie sind in der Regel auch diejenigen, die Care-Arbeit übernehmen müssen, wenn der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt.
Der Körper als öffentlicher Ort. Auch die Privatheit des weiblichen Körpers ist in unterschiedlichen Abstufungen und Ausformungen fremdem Zugriff ausgeliefert: durch konkrete körperliche Gewalt oder subtilere Gewaltformen wie die Zurichtung durch Sexualisierung, rigide Körperideale und die ständige Kommentierung von Frauenkörpern. Auch bei einer Schwangerschaft werden diese zum öffentlichen Ort, die nicht nur durch engmaschige Kontrollen, sondern auch durch Abtreibungsverbote öffentlicher Verfügungsgewalt anheimgegeben sind. Was in einigen US-Staaten so weit geht, dass Schwangere zu einer Ultraschalluntersuchung, also zum Sichtbarmachen des Embryos gezwungen werden, bevor sie einen Abbruch vornehmen dürfen.
Selbst das menschliche Gesicht, also jener Körperteil, der die individuelle Persönlichkeit wohl am stärksten repräsentiert, wird durch Verschleierungs- und Vermummungsverbote sowie Gesichtserkennungssoftware in die Öffentlichkeit gezwungen. Nicht von ungefähr ist deshalb Nacktheit ein zentrales Motiv sowohl in der feministischen Kunst wie auch als politisches Protestmittel. Der nackte Körper bringt dabei die immer drohende Verletzung körperlicher Privatsphäre zum Ausdruck und verkörpert wortwörtlich den Slogan „The personal is political“.
Privatheit als Privileg. Privatheit kann also Entrechtung ebenso bedeuten wie sie zu schützende Religiosität oder Intimität ist, und in diesem Sinne kann sie auch Privileg sein. Sie ist definiert als „the right to be left alone“ (Louis D. Brandeis), was an Virginia Woolfs „Room Of One’s Own“ erinnert, an den ungestörten Raum, der nicht alleine Frauen oft fehlt. Viele Menschen haben keinen privaten Rückzugsort, weil ihn die beengten Wohnverhältnisse einfach nicht hergeben. In „Bad Feminist“ führt Roxane Gay aus, inwiefern das Recht auf Privatsphäre stark an gesellschaftliche Klasse bzw. generell an Privilegien geknüpft ist. „Wenn der Körper eines Menschen irgendeine Differenz repräsentiert, ist in einem gewissen Maß die Privatheit dieses Menschen gefährdet. Der Überfluss an Privatheit gehört zu den Vorteilen, die die privilegierten Klassen genießen und für selbstverständlich halten.“ Es sind nämlich nicht nur Erbe und Einkommen, die mehr Quadratmeter mit sich bringen und mehr Türen, die man hinter sich schließen kann. Auch das Privileg Heterosexualität erlaubt eine Privatheit, die homosexuellen Menschen verwehrt bleibt, deren Liebesleben nicht selten Gegenstand öffentlicher Debatten ist. Intimität kann dann paradoxerweise der öffentliche Raum ermöglichen, in den man als junger Mensch vor der familiären Kontrolle entflieht, oder eine Cruising-Area als Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Die Anonymität der Großstadt wird so zum Freiheitsversprechen, wie Rebecca Solnit in ihrer großartigen Studie „Wanderlust“ beispielreich belegt. Ausgerechnet die Straße als Symbol des Öffentlichen par excellence ist in diesem Fall ein Refugium (auch wenn dort natürlich weiterhin die Gefahr homofeindlicher Übergriffe lauert).
Selbstentblößung. Das Zuhause hingegen entwickelt sich durch das Internet der Dinge, das in jeder Sekunde Daten über uns sammelt, zunehmend zum öffentlichen Ort. In Zeiten, in denen Amazon Echo mehr über unseren Alltag weiß als unsere beste Freundin und Googles neuer Nest Hub sogar unseren Schlaf protokolliert, gibt es dort keine Geheimnisse mehr. Auch beim Surfen werden wir getrackt, und unser „öffentliches“ Profil auf Social Media gibt oft das Persönlichste preis. Auch was auf feministischen Blogs einst als Strategie des Self-Publishing begonnen hatte, um die politische Relevanz des Persönlichen und Privaten deutlich zu machen und feministische Selbsterfahrung und Austausch zu ermöglichen, hat seine Unschuld verloren. Die Sichtbarkeit, die Social Media bringen sollte, ist schleichend zu Selbstvermarktung und Selbstentblößung geworden. „Wie wurde das Internet so schlecht, so einengend, so unentrinnbar persönlich, so bestimmend für das Politische und wieso meinen alle diese Fragen dasselbe?“, fragt Jia Tolentino in ihrer empfehlenswerten Essay-Sammlung „Trick Mirror“. Tolentino widmet sich darin u. a. der Überlegung, wie eine mediale „Architektur, die die persönliche Identität im Zentrum des Universums verortet“, überhaupt noch für kollektive, emanzipatorische Politik dienstbar gemacht werden könne.
Die Frage nach der Möglichkeit für emanzipatorische Politik stellt sich auch bei der gegenwärtigen Neuvermessung der öffentlichen und privaten Sphäre. Und sie muss dringend klären, wie Privatheit in Zukunft beschaffen und organisiert sein sollte, damit wir in unseren selbstbestimmten Rückzugsräumen zwar unbedingt in Frieden, dabei mit unseren Problemen aber nicht alleine gelassen werden.