Christlich-fundamentalistische Gruppierungen gewinnen an Zulauf – und zeigen aktuell
auf den Corona-Demos Gesicht. Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen über die Anziehungskraft fundamentalistischer Strömungen, frauenfeindliche Ideologie und Strategien für Angehörige. Ein Interview von Verena Fabris
an.schläge: Seit Juli 2020 gibt es in Österreich eine Stelle zur „Dokumentation von religiös motiviertem politischen Extremismus“. Im Fokus steht dort der „politische Islam“. Welche anderen religiösen Gruppen sind hierzulande aktiv, die „im Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten“ stehen?
Ulrike Schiesser: Als Erstes fallen mir die Zeugen Jehovas ein – auch wenn ich die nicht nennen dürfte, da wir für anerkannte Religionsgemeinschaften nicht zuständig sind. Ihre Mitglieder sollen nicht wählen gehen. Wenn eine Person die Gruppe verlässt, muss die eigene Familie jeden Kontakt mit ihr abbrechen. Das verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Ansonsten sind es meist kleinere Gruppen. Die Belastungen sind oft sehr subtil, problematisch wird es, wenn ein Weltbild vermittelt wird, das Menschen schadet. Gruppen wie z. B. die „Gemeinde Gottes“ in Vorarlberg erklären, dass die Corona-Regelungen von Satan kämen und dass für die Mitglieder die Regierungsverordnungen nicht gelten würden, denn für sie zähle nur Gott.
Gehen solche Gruppen auch auf die Corona-Demos?
Ja, gerade die Freikirchen sehen die Pandemie oft als Zeichen der Wiederkehr Christi. Das feuert ihre Missionstätigkeit an. Meine Beobachtung ist: Je stärker die religiöse Bindung, desto mehr steht der Glaube über staatlichen Regeln. Darum tun sich manche schwer mit unserer pluralistischen Gesellschaft, ob das LGBTIQ-Rechte sind, eine freie Sexualität oder auch die Überzeugung, dass Kinder selbstbewusst und kritikfähig aufwachsen sollten. Das passt meistens nicht in diese autoritären Systeme. Kinder sollen gehorchen. Männer und Frauen haben genau zugewiesene Plätze. Die heilige Familie soll heilig bleiben.
Wie sieht es mit frauenfeindlichen und homofeindlichen Tendenzen aus?
Mein Eindruck ist, dass sie nicht weniger werden. Wenn mir eine neue Gruppe begegnet, stelle ich zunächst die Frage nach den Leitungsgremien: Können Frauen die Leitung übernehmen und tun sie das auch? Und: Wie geht man mit Homosexualität und Transgender um? Das wird oft als Krankheit oder Sünde gesehen oder als Dämon, der ausgetrieben gehört. Was ich auch ganz oft höre: Die Person wird natürlich bei uns nicht abgelehnt, aber sie muss keusch leben.
Und die Stellung von Frauen?
Das ist komplex. Es gibt kaum eine Gruppe, die sagt, Frauen sind bei uns weniger wert. Auch die Freichristen sagen: Frauen und Männer sind gleichwertig. Aber der Platz der Frau ist in der Familie, sie wird als die Stütze des Mannes gesehen. Der Platz des Mannes ist hingegen im Berufsleben.
Was macht die Faszination von Freikirchen aus, gerade auch für junge Menschen?
Sie versprechen eine Parallelwelt mit einer scheinbar idealen Gemeinschaft. Und sie sind so sicher in dem, was sie sagen. Es gibt klare Vorgaben und weniger Entscheidungen. Man muss nicht den perfekten Weg finden, um sein Leben optimal zu gestalten, sondern es genügt, Gott zu vertrauen. Glaube und Gehorsam werden mit Erfolg belohnt. Dieses Korsett, das wir von außen so erschreckend finden, ist für manche total erleichternd.
Was ist speziell für Frauen attraktiv an solchen patriarchalen Gemeinschaften?
Eine junge Frau hat mir erzählt, sie habe als Teenager den Stress erlebt, alles sein zu müssen – und obendrein noch sexy. Für sie war die Idee entlastend, es gäbe diesen einen Partner, den dir Jesus zuführt. Und auch, dass sie Gleichgesinnte gefunden hat, die an den großen Themen des Lebens interessiert sind: Was ist Liebe? Was Glück? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wie will ich sein? Das sind Themen, die bei Jugendlichen andocken. Zusätzlich bieten Freikirchen ein intensives Programm und viele Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn jemand eine Fähigkeit hat, die für die Gemeinschaft gebraucht werden kann, wird diese gefördert.
Es geht also auch um Selbstwirksamkeit?
Manche schildern, dass sie sich einfach wichtig gefühlt haben, weil sie Soldaten Gottes sind, eine Aufgabe haben, z. B. andere durch die Mission zu retten oder eine bessere Welt zu erschaffen. Eine Rolle spielt auch das Gefühl, zu einer Elite zu gehören.
Welche Rolle spielt Gewalt für die „Soldaten Gottes“?
Körperliche Gewalt kann sich gegen Kinder richten. In der Bibel gibt es eine Reihe von Stellen, in denen steht, der Sohn muss gezüchtigt werden – die Töchter werden kaum erwähnt. Da gibt es einige Gläubige, die das auch praktizieren. Wirklich gewalttätig nach außen sind sie nicht. Formen von psychischer Gewalt sehe ich schon. Häufig wird gesagt: Du bist zutiefst sündig, egal wie sehr du dich bemühst, es ist nie genug. Satan ist eine ständige Bedrohung, vor der man sich in Acht nehmen muss. Selbstbefriedigung ist, wie jede Form der Sexualität außerhalb der Ehe, verpönt. Begehren, Rebellion und Autonomie werden unterdrückt. Auch dass man meist keine Beziehungen außerhalb der Gemeinschaft haben soll, ist für mich etwas Gewalttätiges oder zumindest schwer Manipulatives.
Wo ist die Grenze zu religiös motiviertem politischen Extremismus?
Für mich ist es immer problematisch, wenn es extrem wird. Für die Einzelperson ist das Ausmaß ausschlaggebend. In der Gruppe ist relevant, wie sehr die Umwelt als böse, gefährlich und satanisch definiert wird. Das ist auch eine Form des Entmenschlichens. Dann ist bis zu Gewalt alles drinnen, denn es trifft ja ohnehin nur das absolut Böse.
Warum wenden sich Angehörige an die Bundesstelle für Sektenfragen?
Angehörige rufen meist schnell an, wenn sie Inhalte irritieren, wie z. B., dass die Evolutionstheorie abgelehnt wird. Auch missionierendes Verhalten fällt der Umgebung schnell auf. Und es ist oft das Gefühl, jemand nimmt mir die Person weg, da passiert Gehirnwäsche.
Wann läuten bei Ihnen die Alarmglocken?
Wenn es Kinder und Jugendliche betrifft. Religionsfreiheit endet dort, wo die Kinderrechte anfangen. Das wird in diesen Gruppen selten gesehen. Kinder sind der Besitz der Eltern. Das ist nach wie vor ein blinder Fleck bei der Kinder- und Jugendhilfe. Es ist zu viel Sorge da, Religionsrechte zu verletzen, stattdessen werden Kinderrechte verletzt.
Kritisch ist auch das Thema Gesundheit. Da geht es wirklich um Leib und Leben, wenn z. B. ärztliche Behandlungen abgelehnt werden, weil nur Gott heilt.
Gibt es da in der Politik einen blinden Fleck?
Ich würde sagen, das ganze Feld, das die sogenannten Sekten betrifft, wird völlig unterschätzt. Spiritueller Missbrauch ist ein absoluter Tabubereich, da schaut man überhaupt nicht hin.
Was bräuchte es?
Mehr Aufmerksamkeit, dass da Menschen zu Schaden kommen. Wenn sich Menschen in eine Parallelrealität verabschieden, haben wir wirklich ein Problem. Wie komme ich noch in einen gesellschaftlichen Diskurs, wenn eine Gruppe sagt: Ich erkenne den Staat nicht an, ich bin der Meinung, die Erde ist flach, ich gehe lieber zum Exorzisten als zum Therapeuten. Das ist dann auch eine Gruppe von Personen, die man instrumentalisieren und radikalisieren kann.
Was raten Sie Angehörigen, die sich an Sie wenden?
Wenn möglich den Kontakt zu halten und nicht mit der Idee hineinzugehen, die Person mit der richtigen Argumentation zu überzeugen. Das heißt nicht, dass man Kreide fressen muss, sondern, dass die Kritik auf eine Art und Weise verpackt ist, dass die Person sich nicht automatisch angegriffen fühlt. In den problematischen Gruppierungen werden die Leute immer isoliert. Da ist oft die Familie der eine Faktor, der sich nicht so leicht rausschneiden lässt. Es sind kleine Schritte, man kann Samenkörner fallen lassen, das eine oder andere geht vielleicht einmal auf. Es langfristig sehen. Ein Stück weit auch Toleranz leben, aushalten, dass jemand ganz anders lebt, denkt, handelt. Man wirkt selbst über die eigene Beziehung, über die eigene Persönlichkeit mehr als über das, was man sagt.
Ulrike Schiesser ist Psychologin und Psychotherapeutin, seit 2009 ist sie Mitarbeiterin der Bundesstelle für Sektenfragen.
Verena Fabris leitet die Beratungsstelle Extremismus, sie engagiert sich in der Armutskonferenz und in feministischen Zusammenhängen und ist im Vorstand der an.schläge.