Seit Jahren hetzen rechtsextreme und christlich-fundamentalistische Akteur*innen gegen progressive Sexualerziehung. Im Namen des Kinderschutzes kämpfen sie gegen eine pluralistische Realität. Von Nora Noll
Junge Menschen in bunten T-Shirts, Luftballons und fetzige Kirchentags-Rockmusik. Das Promovideo für den „Bus für Meinungsfreiheit“ lässt die Bustour mit dem Slogan „Schützt unsere Kinder“ nach einer harmlosen Pfadfinder-Aktion aussehen. Tatsächlich aber ist sie Teil einer extrem rechten Kampagne mit der Kernbotschaft: „Unsere“ Kinder müssten vor dem „Genderwahn“ geschützt werden.
Wer die „Demo für Alle“ kennt, kann die Aktion ohnehin im entsprechenden Spektrum verorten. Das Bündnis organisiert Demonstrationen, Info-Veranstaltungen und eben die Bustour, die vergangenen September bereits zum dritten Mal stattfand. Die Kampagnen richten sich u. a. gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ und eine vermeintliche „Frühsexualisierung“ in der Sexualerziehung.
Seit Jahren wird in Deutschland und Österreich Stimmung gegen progressive Sexualerziehung gemacht. Das Narrativ: Die Lehre von vielfältigen Lebensmodellen würde Kinder verstören und von einem „natürlichen“ Lebensmodell abbringen, ein sex-positiver und queer-inklusiver Ansatz würde Kinder sexualisieren und letzten Endes gar Kindesmissbrauch fördern.
Die Vorwürfe lassen sich leicht aushebeln. So ist es in der Sexualpädagogik Konsens, Kinder und Jugendliche nicht mit Themen zu bedrängen, sondern auf deren Fragen einzugehen. Dabei können Gespräche entstehen, die nicht zum konservativen Bild des „reinen“, „unschuldigen“ Kindes passen. Laut Lilly Axster, Autorin und Referentin von Selbstlaut, einer Wiener Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, sind es genau diese Gespräche, die gegen Missbrauch wappnen. „Sexuelle Bilder sind ja überall zu sehen, deswegen muss man darüber reden. Und die Täter_innen sind nicht die Leute, die den Kindern Informationen bieten“, so Axster im an.schläge-Interview.
Konservative Radikalisierung. Es geht den selbst ernannten Kinderschützer_innen nicht um Missbrauchsprävention. Es geht ihnen um den Schutz eines antipluralistischen Weltbildes. Doch die Angst um Kinder zieht bei der sogenannten „bürgerlichen Mitte“. Das war 2014 zu beobachten, im Gründungsjahr der „Demo für Alle“. Die Gruppe formierte sich im Zuge einer Protestbewegung gegen einen neuen Bildungsplan in Baden-Württemberg, der im Bereich der Sexualerziehung einen pluralistischen Ansatz vertrat und Themen wie Geschlechtsidentität und sexuelle Vielfalt integrieren sollte. CDU-Politiker_innen stellten sich ebenso gegen den Bildungsplan wie rechtsextreme Gruppierungen und bewirkten schließlich eine Überarbeitung der Richtlinien.
Judith Rahner leitet die Fachstelle zu Gender, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS). Seit 2014 beobachtet sie, wie öffentliche Diskussionen zu Sexualerziehung enthemmter und aggressiver geführt werden: „Mittlerweile schicken die Leute Morddrohungen unter Klarnamen.“ Sie erklärt sich die Radikalisierung zumindest teilweise mit dem wachsenden Erfolg der AfD: „Die haben ihre eigene professionalisierte Medienblase, wenn dort etwas hochkocht, ist es ruckzuck in der ‚Bild‘-Zeitung und dann überall.“ Eine AfD-Politikerin wie Beatrix von Storch, die sich für die „Demo für Alle“ einsetzt und das Narrativ der „Gender-Ideologie“ öffentlich vertritt, habe nun als Mitglied des Bundestags eine ganz neue Reichweite. Der Subtext, so Rahner, sei klar: „Die da oben wollen uns etwas Schlechtes, uns umerziehen und unser Geschlecht nehmen.“
Umkämpfte Schulen. Progressive Sexualerziehung ist in der Logik der rechten Gruppierungen ein ideologisches Projekt der akademischen und politischen Elite. Es ist nur folgerichtig, dass besonders jene Initiativen angegriffen werden, die in einem staatlichen Rahmen arbeiten. Das gilt für Deutschland wie für Österreich. Lilly Axster erinnert sich an heftige Attacken, als Selbstlaut 2012 im Auftrag des Bildungsministeriums Sexualerziehungsmaterial für Lehrer_innen erstellte. „Wir haben viele scheußliche Zuschriften bekommen“, sagt Axster. Seitdem sei es für Selbstlaut weder schlimmer noch besser geworden. „Es gibt immer mal wieder unsägliche Artikel, es ist ein heiß umkämpftes Feld.“
Heiß umkämpft von rechts – und von katholisch-fundamentalistischer und evangelikaler Seite. Die Lager sind schwer voneinander zu trennen. Im Dunstkreis der „Demo für Alle“ ist die AfD und die sogenannte „Neue Rechte“ stark präsent, ebenso ist die Vernetzung mit radikalisierten Christ_innen nicht zu übersehen. So verbreitet das katholische Onlinemedium kath.net Texte von Gabriele Kuby, einer Unterstützerin der „Demo für Alle“. Wie weit die Fundamentalist_innen gehen, zeigte 2019 die Causa „TeenSTAR“ in Österreich. Der christliche Verein hatte an Schulen Pseudoaufklärung angeboten und dabei trans-, homo-, sexfeindliche, misogyne und schlicht falsche Inhalte vertreten.
Nina Mathies ist Bundesvorsitzende der Aktion Kritischer Schüler_innen in Österreich, 2019 war sie Vorsitzende der Landeschüler_innenvertretung Vorarlberg. Die Debatte um TeenSTAR war für sie ein Anlass, die unterschiedlichen Standards bei der Sexualerziehung zu thematisieren. „An meiner Schule wurden in Workshops auch queere Themen unterrichtet. Aber ich weiß von katholischen Privatschulen, wo es solchen Unterricht überhaupt nicht gibt“, sagt Mathies gegenüber an.schläge. „Deswegen sollte nicht jede Schule selbst entscheiden, sondern nach Richtlinien von einem unabhängigen Gremium.“
Die Politik reagierte auf die Debatte und riet Schulen nach langem Hin und Her offiziell von TeenSTAR ab. Doch darauf folgte ein Backlash: Mit einem Entschließungsantrag bereitete die türkis-blaue Regierung im Sommer 2019 ein Verbot aller externen Vereine an Schulen vor. Mit dem Ende der Koalition war der Plan vom Tisch, nun ist ein Akkreditierungssystem vorgesehen. Für Mathies sind externe Angebote entscheidend, um Schüler_innen einen angemessenen Raum für Fragen und Sorgen zu bieten. „Mir war es damals nicht angenehm, mit meiner Biolehrerin über Sexualität zu reden.“
Auch wenn manche_r Schüler_in Fragen lieber schulexternen Pädagog_innen stellt, brauchen alle Lehrpersonen grundlegendes sexualpädagogisches Wissen. So sieht es die Bildungswissenschaftlerin Marion Thuswald. Sie hat die Aus- und Fortbildung im Bereich der Sexualpädagogik von Lehramtsstudierenden und Lehrenden in Österreich untersucht. Besonders in der Ausbildung sieht sie einen Mangel an Angeboten. Dabei seien sexualpädagogische Fragen für alle Lehrer_innen relevant: „Auch wenn sie nicht über Sexualität unterrichten, sind sie im Schulalltag mit sexualpädagogischen Herausforderungen konfrontiert: Was soll ich tun, wenn in der Pause Pornos geschaut werden oder wenn die Tafel mit Penissen vollgemalt wurde?“
In Fortbildungen werden je nach Kurs unterschiedliche Inhalte vermittelt. Oft fehle ein kritischer Umgang mit Geschlechternormen oder die Reflexion von Heteronormativität. Doch Thuswald erkennt auch einen grundlegend sexual-freundlichen Ansatz: Jugendsexualität werde anerkannt, Masturbation, Verhütungsmittel – alles kein Problem. Diese Grundhaltung sei nicht selbstverständlich, die USA befänden sich beispielsweise an einem ganz anderen Punkt. „Dort sind Diskurse wie Abstinenz vor der Ehe in der breiten Debatte viel präsenter.“
Einschüchterung. Die Angriffe gegen eine progressive Sexualerziehung kommen in Österreich und Deutschland von einer Minderheit, das betont auch Judith Rahner von der AAS. Doch die laute Minderheit zeige Wirkung. „Mittlerweile überlegen sich Sexualpädagog_innen zweimal, ob sie sich wirklich öffentlich positionieren oder eine Broschüre herausgeben wollen. Das verschließt Räume.“ Gezielte Angriffe verhinderten so wichtige Aufklärungsangebote.
In diesem Jahr ist die Mobilmachung gegen „Frühsexualisierung“ und „Genderwahn“ von anderen Themen zurückgedrängt worden. Die Bustour der „Demo für Alle“ zog nur wenige an und wurde medial kaum beachtet. Das Buzzword „Kindeswohlgefährdung“ wird derweil an anderen Fronten genutzt. Rahner findet in der Kommunikation sogenannter „Corona-Leugner_innen“ dieselbe Strategie wieder: „Es kursieren Fake-News von angeblich über zwanzig Kindern, die wegen einer Maske gestorben sein sollen.“ Die Angst um Kinder zieht eben, egal ob die Bedrohung nun von einer Maske oder von Sexualaufklärung kommt.
Was die Panikmache der Corona-Leugner_innen betrifft, so werden ihre Verschwörungsmythen medial widerlegt und bisher nur von extrem rechten Politiker_innen weiterverbreitet. Der Verschwörungsmythos einer staatlich geförderten und gefährlichen „Gender“-Umerziehung ist hingegen bis tief in bürgerliche Zeitungen und Parteiprogramme vorgedrungen. Obwohl das Thema zurzeit keine Schlagzeilen macht, müssen progressive Sexualpädagog_innen auch in Zukunft mit Widerstand rechnen – und Schüler_innen weiterhin einen angemessenen Unterricht einfordern.
Nora Noll ist freie Journalistin und studiert Literaturwissenschaften, seit Kurzem in Oxford. Den britischen Lockdown verbringt sie klassisch mit Schwarztee und Spaziergängen über schlammige Wiesen.