Unser Schulsystem zementiert Klassenunterschiede ein. Radikale Reformen im Bildungssystem sind überfällig. Von Elke Larcher und Hanna Lichtenberger.
Der Schulbetrieb ist durch Corona massiv beeinflusst, auch im Wintersemester ist Normalbetrieb nicht möglich. Pädagoginnen, Kinderrechtlerinnen und NGOs warnten seit dem Frühjahr vor den negativen Konsequenzen, die der Lockdown inklusive Schließung des regulären Schulbetriebs für Kinder und Jugendliche hatte. Der Tenor ist einhellig: Die Folgewirkungen der Corona-Semester werden Schülerinnen noch lange begleiten. Entscheidend sind vor allem die privaten Ressourcen der Familien. Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche bekommen die negativen Konsequenzen besonders deutlich zu spüren.
Von der Gesundheitskrise zur Bildungskrise. Die Herausforderung, zu Hause zu lernen, war für alle Familien groß, für manche jedoch unmöglich zu bewältigen. Im Frühjahr war entscheidend, wer Ausstattung wie Laptops und Drucker zu Hause hatte oder diese kaufen konnte, wessen Eltern Zeit hatten, beim Lernen zu unterstützen, und auch das Wissen, um Lernstoff zu erklären. Genau hier hat sich die Lernschere weit geöffnet und seither auch nicht mehr geschlossen. Wissenschaftlerinnen des Instituts für Höhere Studien (IHS) haben Lehrerinnen zu ihren Einschätzungen über die Auswirkung von Homeschooling im Frühjahr befragt. 36 Prozent der als benachteiligt eingeschätzten Kinder waren für die Lehrerinnen schwer oder gar nicht erreichbar. Armutsbetroffene Schülerinnen konnten seltener auf die Eltern im Homeoffice zur Unterstützung zurückgreifen. Zudem hatten 2019 36 Prozent aller Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten unter 18 Jahren gar keinen PC im Haushalt. Unter diesen besonders schwierigen Bedingungen der Covid-19-Krise wirkt sich Armut in noch höherem Maß als sonst auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen aus. Doch die aktuelle Situation stellt nur die Spitze des Eisbergs der Bildungsungleichheit dar.
Selektion im Schulsystem. Die Bildungsmobilität zwischen den Generationen ist in Österreich schwach ausgeprägt. Es hängt stark von der sozialen Herkunft ab, welchen höchsten Bildungsabschluss Kinder und Jugendliche erhalten. 57 Prozent der 25- bis 44-Jährigen aus akademischen Haushalten erreichen ebenfalls einen Hochschulabschluss. Bei Personen aus Haushalten mit niedriger Formalbildung liegt der Anteil bei sieben Prozent. Die Weichen für die unterschiedlichen Bildungswege werden in Österreich – auch im internationalen Vergleich – durch die Trennung von Gymnasien und Mittelschulen früh gestellt. Eine nachträgliche Abweichung von durch die Trennung skizzierten Bildungswegen ist sehr selten, wie die Studien zeigen. Ausschlaggebend für die Schulwahl sind zumeist der sozioökonomische Hintergrund – das Geldbörsel und die Herkunft beispielsweise.
Die Empfehlungen der Lehrerinnnen und die Entscheidungen der Eltern prägen den Weg eines Kindes in Mittelschule oder Gymnasium. Welchen Kindern der Weg ins Gymnasium empfohlen wird und welchen nicht, hat viele Dimensionen. Die Eignung eines neun- oder zehnjährigen Kindes, sofern diese überhaupt in diesem Alter schon einzuschätzen ist, wird von Klassenverhältnissen und Rassismus beeinflusst. Melisa Erkurt, die mit ihrem Buch „Generation Haram“ (siehe Seite 20) viel Aufmerksamkeit für die Diskriminierung von Kindern mit Migrationsgeschichte in der Schule bewirkt hat, sagt in einem Interview mit dem „Futter“-Magazin der „Kleinen Zeitung“: „Rassismus und Diskriminierung existiert individuell von Mitschülerinnen oder Lehrerinnen, aber auch im System Schule, weil das System sich darauf verlässt, dass alle Kinder daheim Eltern haben, die genug Geld und auch Zeit haben, den Kindern zu helfen. Aber das haben die meisten Kinder mit Migrationshintergrund nicht.“
Aber ebenso bedeutsam wie die frühe Trennung ist die wesentliche Rolle des Lernens zu Hause. So weisen die Bildungssoziologinnen Barbara Rothmüller und Philipp Schnell darauf hin, dass das österreichische Bildungssystem u. a. durch die frühe Selektion stark auf dem Engagement und der Involvierung der Eltern aufbaut – entweder durch gemeinsames Üben und Hausübungenmachen oder durch die Finanzierung und Organisierung von Nachhilfe. Vorausgesetzt wird, dass Eltern den Stoff selbst (noch) beherrschen, der Schule hohe Priorität geben (können), über ausreichend Zeit verfügen, um zu helfen, oder finanziell so gut ausgestattet sind, um Unterstützung durch Dritte zukaufen zu können. Ganztagsschulmodelle sind weder flächendeckend noch in ausreichendem Ausmaß vorhanden. So ist auch Melisa Erkurts Plädoyer für eine verpflichtende Gratisganztagsschule zu verstehen – die so hochwertig ist, dass sie auch für bildungsbürgerliche Eltern, die die Unterstützungsleistung in welcher Form auch immer bisher leisten konnten, attraktiv ist. Ansonsten setzt sich die soziale Trennung von Schülerinnen weiter fort. Dass ein Gesamtschulmodell, das auf eine frühe Selektion von Kindern verzichtet und den Schwerpunkt des Lernens in die Schule verlegt, erfolgreich ist, zeigt etwa Finnland. Dort werden Schüler*innen erst mit Ende der unteren Sekundarstufe auf unterschiedliche Bildungswege aufgeteilt. Die Ergebnisse: Im PISA-Vergleich zeigen finnische Lernende höhere Leistungen und ihre Bildungskarriere ist wesentlich weniger durch ihren sozioökonomischen Background bestimmt.
„Zahlen bitte!“ In Österreich wiegt der finanzielle Hintergrund der Eltern schwer. Der Schulbesuch ist nur theoretisch kostenlos, in der Praxis muss von Schulmaterialien bis Ausflügen jede Menge bezahlt werden. Eltern in der Volksschule mussten 2016 rund 640 Euro pro Jahr an Schulkosten aufbringen, in der Oberstufe des Gymnasiums sind es schon 1320 Euro. Besonders teuer ist dabei privater Zusatzunterricht etwa bei Nachhilfeinstituten.
Aber auch Privatschulen gehören zur Architektur des österreichischen Schulsystems. Jedes zehnte Kind besucht in Österreich die Schule eines privaten Trägers. Von konfessionellen bis hin zu reformpädagogischen Schwerpunkten findet sich dabei für jede Präferenz etwas. Im Schuljahr 2019/20 besuchten etwa sieben Prozent der Schulkinder eine katholische Privatschule (KPS), deren Anteil stieg seit 2014 sogar um sechs Prozent. Der Soziologe Hans Buden diagnostiziert eine „Bildungspanik“ der Mittelschicht. Das Distinktionsbedürfnis gegenüber Kindern finanziell schlechter gestellter Familien und die Angst vor dem sozialen Abstieg der eigenen Kinder im Kontext einer immer krisenhafter werdenden Gesellschaft prägen wohl die Entscheidung für eine Privatschule mit.
Aber nicht nur die konfessionellen Privatschulen, auch der alternativpädagogische Privatbereich ist „gut gebucht“ – und beginnt früh. Krabbelgruppe im Montessori-Haus? 350 Euro pro Monat. Von der Reggio-Pädagogik inspirierte Gesamtschule gesucht? In Wien kommt da die Vienna International School infrage – Kostenpunkt: je nach Schulstufe pro Schuljahr und Kind durchschnittlich rund 12.300 Euro. Obwohl alternativpädagogische Bildungseinrichtungen in ihren Anfängen nicht für bildungsbürgerliche Schichten gedacht waren. Ende der 1920er-Jahre eröffnete das radikal-reformistische Rote Wien die ersten Montessori-Kinderhäuser als Gemeindekindergarten. Heute sind Montessori-Häuser ein für viele unerschwinglicher Luxus. Die Rückkehr zu den Ziffernnoten, das Festhalten an hundertjährigen Unterrichts- und Klassenformen und nicht adaptierte Schulgebäude aus dem 19. Jahrhundert bieten Eltern aus dem alternativen Milieu gute Gründe für den Ausstieg aus dem Regelsystem. Doch der Umstand, dass sich ein Teil der privilegierteren Bevölkerung dafür entscheidet, Kinder aus dem Regelschulsystem zu nehmen, senkt den Druck auf die Bildungspolitik.
Konservierung des Status quo. So tragen Schulen maßgeblich dazu bei, Statusunterschiede über Generationen hinweg zu konservieren. Die individuellen Möglichkeiten sowie die Ressourcen Zeit, Geld und Bildung der Eltern sind für den guten Schulerfolg entscheidend. Doch diese Schule können wir uns nicht mehr leisten. Wer verhindern will, dass ein prekäres Schulsystem eine verlorene Generation hervorbringt, muss sich international an den Erfolgsmodellen orientieren, statt auf bildungspolitische Schlager aus dem 19. Jahrhundert zu setzen.
Elke Larcher ist Referentin für Bildungspolitik in der Arbeiterkammer Wien.
Hanna Lichtenberger ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin und arbeitet in der Volkshilfe Österreich zu den Themen Kinderarmut, Pflege und Betreuung.