Schuldirektorin und Kinderbuchautorin Saskia Hula plädiert für Lernräume, die sich nicht an Lehrzielen, sondern an den Lernvoraussetzungen der einzelnen Kinder orientieren – ohne dauernde Beurteilung und Benotung. Mit engagierten Lehrenden, die ihre eigene Machtposition reflektieren. Interview: Lea Susemichel
an.schläge: Österreich und Deutschland gehören zu den Ländern mit der höchsten sozialen Segregation in Schulen, bereits im Volksschulalter wird über den weiteren Bildungsweg von Kindern entschieden, was bekanntlich zu enormer Bildungsbenachteiligung führt und dazu, dass Bildung hierzulande überdurchschnittlich oft weitervererbt wird. Was muss sich ändern?
Saskia Hula: Die Trennung der SchülerInnen mit zehn Jahren gehört natürlich abgeschafft. Allerdings wird das nicht einfach so funktionieren. Damit alle Kinder länger miteinander lernen können, muss sich die Schule endlich am einzelnen Kind und seinen Bedürfnissen orientieren. Und dafür muss sie völlig neu gedacht werden. Ebenfalls abgeschafft werden sollte aus meiner Sicht die dauernde Beurteilung und Benotung von Kindern. Es sollte im Unterricht nicht mehr darum gehen, Kinder anhand eines Normmaßes miteinander zu vergleichen. LehrerInnen sollten Lernen ermöglichen und nicht das Scheitern dokumentieren, wie es jetzt oft der Fall ist.
Es ist die Aufgabe des Bildungssystems, jedes Kind so gut es geht in seiner Entwicklung zu begleiten, es zu fördern und ihm die Freude am Lernen zu erhalten bzw. zu vermitteln. Das funktioniert im jetzigen System vielleicht bei manchen Kindern, die sowieso schon zu Hause gefördert werden – und selbst das wage ich zu bezweifeln –, aber ganz sicher nicht bei Kindern mit schlechten Voraussetzungen.
Kinder aus benachteiligten Verhältnissen sind auch in der Schule benachteiligt, und ihr Rückstand gegenüber geförderten Kindern wird mit jedem Schuljahr größer statt kleiner.
LehrerInnen stehen nach wie vor unter dem Druck, mit allen Kindern ganz bestimmte Lehrziele zu erreichen. Das führt dazu, dass in vielen Klassen der Lehrstoff das entscheidende Kriterium für den Unterricht und sein Tempo ist und nicht die Kinder mit ihren Lernvoraussetzungen. Kinder wiederum neigen dazu, den Leistungserwartungen entsprechen zu wollen. Sie werden zu MeisterInnen darin, ihre Bücher wie gewünscht auszufüllen, gewöhnen sich dabei aber das eigenständige Denken ab.
Was halten Sie von Deutschförderklassen?
In der Form, wie sie bei uns gerade üblich sind, halte ich sehr wenig davon. Ausschließlich Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, in einem Raum zu versammeln, ist keine besonders gute Voraussetzung dafür, Deutsch zu lernen.
Meistens finden sich in den Deutschklassen außerdem SchulanfängerInnen, die weder schreiben noch lesen können und sowieso auf den Spracherwerb über die gesprochene Sprache angewiesen sind. Das kann auch in jeder Regelklasse gut funktionieren, ohne dass man diese Kinder aus der Klassengemeinschaft ausschließt, denn genau das ist es, was mit diesen Kindern passiert.
Völlig absurd sind die ständigen Testungen, mit denen die Sprachförderlehrkräfte rund ums Jahr beschäftigt sind und die sie häufig notgedrungen anstelle des Sprachunterrichts machen. Kinder, die diese Tests nicht schaffen, bleiben bis zu zwei Jahre in der Deutschförderklasse, verlieren zuerst die ursprüngliche Klassengemeinschaft, finden in die nächste kaum hinein und werden nach den zwei Jahren dann schlussendlich vom System „aufgegeben“. Wer nämlich nach zwei Jahren noch immer nicht entspricht, hat den Anspruch auf Deutschförderung verloren und muss sich allein zurechtfinden.
Bezeichnend sind dabei auch die Ausdrücke, die für den Sprachstand von Kindern verwendet werden, nämlich „unzureichend“, „mangelhaft“ oder „ausreichend“. Es ergibt sich fast von selbst, dass im Zuge der vielen Testungen irgendwann von unzureichenden, mangelhaften und ausreichenden Kindern gesprochen wird, und man muss schon sehr bewusst mit Sprache umgehen, um das zu vermeiden.
Sinnvoll sind zusätzliche Deutschkurse vor allem in höheren Klassen.
Aber auch da sind die Gruppenzahlen viel zu hoch. Autonome und sehr flexible Möglichkeiten für einzelne Schulen wären da wichtig. Da spart unsere Gesellschaft am falschen Platz.
„Die coolste Schule der Welt“ heißt eines Ihrer Bücher. Wie sieht die aus?
Die coolste Schule der Welt ist – jedenfalls in meinem Buch – die, die man selbst gestaltet. In der man kreativ wird, Probleme bearbeitet, ausprobiert, Lösungen findet, am besten gemeinsam und mit Freude.
Meine persönliche coolste Schule ist eine, in der ganz unterschiedliche Lernräume zum Lernen und Entdecken auffordern – eine Werkstatt, ein Labor, eine Bibliothek, ein Theater, ein Tanzsaal, ein Raum der Mathematik, ein Atelier.
Diese Räume können wir uns allerdings nicht leisten, weil wir uns für lauter gleiche Klassenräume entschieden haben, in denen alle Kinder auf die gleiche Tafel schauen und das Gleiche ins Heft schreiben.
Wir sollten endlich infrage stellen, ob wirklich alle gleichzeitig das Gleiche lernen müssen, im Fünfzig-Minuten-Takt und schön geordnet nach einem Fächerkanon, der sich seit dem 19. Jahrhundert kaum verändert hat. Die Welt hat sich seither nämlich durchaus weitergedreht.
Die Ökonomisierung von Bildung schreitet ungebremst voran, das zeigt aktuell etwa die Aussage von TU-Rektorin Sabine Seidler („Studieren nur um des Studierens willen geht nicht“). Sollte Bildung nicht vielmehr als wichtige gesellschaftspolitische Ressource verteidigt werden, die jede Demokratie unbedingt braucht? Und die auf „das gute Leben für alle“ vorbereitet und nicht nur auf den späteren Berufserfolg?
Schule kann heute gar nicht mehr auf den späteren Berufserfolg vorbereiten, ohne das gute Leben für alle zu berücksichtigen. Schließlich weiß heute niemand so genau, was in zehn oder zwanzig Jahren am Arbeitsmarkt gebraucht wird. Das, was man aber weiß, ist, was Menschen grundsätzlich brauchen, um ein glückliches Leben zu führen. Dazu gehören ein gesundes Selbstwertgefühl, das Erleben von Sinnhaftigkeit, Gemeinschaft und Freude am Lernen. Und deswegen sind das auch die Dinge, auf die wir uns in der Schule konzentrieren sollten. Das große Problem an unserem Bildungssystem ist, dass unsere Schule versucht, die Kinder von heute mit Methoden von gestern auf das Leben von morgen vorzubereiten.
Bildungsreformen dauern durchschnittlich dreißig Jahre, hat sich gezeigt. Wieso ist dieses System so schwerfällig und wie ließe sich das ändern?
Ich fürchte, bei uns hat sich auch in den letzten dreißig Jahren sehr wenig verändert, im Gegenteil. Als ich vor über dreißig Jahren begonnen habe, in der Schule zu arbeiten, waren Projektunterricht, Offenes Arbeiten, Differenzierung genauso abstrakte Schlagwörter wie heute. Damals haben sie immerhin interessant geklungen, wenn sie auch wenig umgesetzt wurden. Heute haben sie den Glanz des Neuen verloren und werden zwar verlangt, aber noch immer nicht umgesetzt.
Dass das Bildungssystem sich so langsam ändert, liegt zu einem guten Teil auch daran, dass wissenschaftliche Erkenntnisse so gut wie gar nicht in Schulen gebracht werden. Es gibt vielleicht einmal einen Erlass hier oder ein ganzes Paket von Erlässen da – aber die finden keine Umsetzung, weil sie von vielen Lehrkräften gar nicht wahrgenommen werden. LehrerInnen müssten viel stärker darin unterstützt werden, ihren eigenen Unterrichtserfolg zu reflektieren und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Denn im Grunde machen viele LehrerInnen nach wie vor das, was auch ihre SchülerInnen machen: Sie tun so, als ob sie es könnten.
Was würden Sie aus dem Curriculum streichen? Was neu aufnehmen? Und was fehlt Ihrer Meinung nach in der Ausbildung der Lehrenden von morgen?
Das Wichtigste, was dieser Ausbildung fehlt, ist – auch nachdem sie auf fünf Jahre aufgeblasen wurde – ein Schwerpunkt auf Selbstreflexion. LehrerInnen haben – gerade dort, wo Kinder benachteiligt sind und keine einflussreichen Eltern hinter ihnen stehen – sehr viel Macht, und in Wahrheit haben sie nie gelernt, wie man mit dieser Macht umgeht. Es liegt also an der einzelnen Persönlichkeit einer Lehrkraft, wie sie sich Kindern und Eltern gegenüber verhält, welche Möglichkeiten sie ihnen gibt und welche nicht, ob sie aufrichtig bemüht ist, sich weiterzuentwickeln oder nicht.
Wie sieht es aktuell mit politischer Bildung in der Schule aus? Steht etwa Feminismus auf dem Lehrplan, ist also z. B. irgendeine Form von Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen vorgesehen (die ja gerade auch für Kinder sehr einschränkend und hinderlich sein können)?
Im Lehrplan steht unglaublich viel. Aber ob und wie das umgesetzt wird, liegt ganz in der Hand der einzelnen LehrerInnen und ist damit extrem abhängig von deren eigenen Meinungen, Haltungen und Wahrnehmungen.
Der Beruf der Volks-/Grundschullehrerin ist ja traditionell weiblich (schlecht bezahlt, geringer Status …). Ändert sich daran langsam etwas?
Das glaube ich nicht. Erst vor Kurzem hat mir eine Mutter von ihrer Tochter erzählt, die Medizin studieren möchte. Nachdem sie die Aufnahmeprüfung schon letztes Jahr nicht geschafft hat, bemüht sie sich dieses Jahr noch einmal darum. Falls es allerdings wieder nicht klappt, kann sie immer noch Lehrerin werden …
Es ist schon ein Drama, dass unsere Schule so wenig Anziehungskraft besitzt und der Lehrberuf oft tatsächlich nur eine zweite oder dritte Wahl ist.
Unsere Kinder sind schließlich unsere Zukunft. Allein deswegen sollten wir sie nur den Besten überlassen.
Saskia Hula ist Direktorin der Ganzstagsvolksschule Am Schöpfwerk in Wien-Meidling und mehrfach ausgezeichnete Kinderbuchautorin.