Atomkraft und Fingerfarben: ULLI WEISH über ihre Kindheit in der Öko-Protestkultur der 1970er-Jahre
Ich wuchs in einem Fertigbetonbau in Wien-Brigittenau auf, Blick auf Häuser gleichen Formats, Hendlbatterie, Großstadtflair, im Zentrum: das Auto im Innenhof. Ich erinnere mich an die Petition im Mischek-Bau der 1970er, die forderte den einzigen Baum im Hof zu fällen. „Der Baum macht die Mauer hin“, sprach der Hausbesorger, den Kugelschreiber und die Namensliste in der Hand. Die Mieter_innen unterschrieben trotz des grimmigen Drängens nicht ausnahmslos, der Baum musste bleiben und wurde heimlich mit Nägeln bearbeitet, doch er starb nicht ab. Heute steht er noch immer im Hof und ist groß gewachsen.
Als Tochter eines Ökologen und Aktivisten der Umweltszene war mir viele Jahre völlig unbewusst, dass ich aufgrund meiner politischen Sozialisation einen verzerrten Blick hatte: Ich ging als junge Frau Anfang zwanzig davon aus, dass meine Generation die bereits lange bekannten Risikotechnologien – Atomindustrie und Gentechnik als Zerstörungssysteme nach innen und außen – längst überwunden hatte und zu neuen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der nachhaltigen Produktion und einer demokratiepolitischen Erneuerung finden würde. Ich war in einer Blase, in einer winzigen, die damals weder schick war noch Bobo, sondern schrullig, radikal, auffallend anders und gegen den Strom des ewigen Fortschrittsglaubens und der Technikgläubigkeit gerichtet. Es begann die Zeit der 68er, die in Österreich genau zehn Jahre später stattfand. Denn neben der Anti-Zwentendorf-Bewegung (1), die zu einer extrem heterogenen Protestbewegung führte (die politische Palette der Aktivist_innen reichte von ganz Rechtsaußen bis ganz Links und war dennoch in einer einzigen Frage geeint, was heute undenkbar erscheint), sammelten sich Aktivist_innen in weiteren Friedensinitiativen und regionalen Bürger_innenbewegungen. Es entstand in Österreich eine vor allem ökologisch engagierte und erfolgreiche Zivilgesellschaft. Ich war in einer Aufbruchsstimmung, die mindestens zehn Jahre lang währte, groß geworden. Mein erster Demospruch war „Spielplätze statt Kernkraftwerke“, meine Kindergruppe hatte mit Fingerfarben für einen großen Sternmarsch gemalt und demonstrierte inmitten einer Schar von Eltern mit Gitarren und Flöten. Ich rieche die Sonne und den Asphalt, höre Sprechchöre, Lieder und Lachen, sehe Polizisten und Gendarmen in grünen Einsatzwägen sitzen, in ihren Uniformen schwitzen. Wir bringen ihnen Blumen und Unterschriftenlisten und Atomkraft-Nein-Danke-Aufkleber. Als im November 1978 die Volksabstimmung zu Zwentendorf „arschknapp“ – 50,5 Prozent stimmten mit „Nein“, trotz unvergleichlichem Kampagnenvolumen der Energiewirtschaft gemeinsam mit der damaligen Regierung – gegen die Inbetriebnahme ausfiel, war nicht nur in meiner Familie die Überzeugung gefestigt, dass nun der Kampf gegen die Atomlobby entschieden und ein langsames und unaufhaltsames Ende der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ beginnen würde. Atomausstieg weltweit war realistisch und utopisch zugleich – heute ist er wieder Utopie.
Grüne Marke. Das, was einst von Teilen einer linken kritischen Ökologiebewegung vorgeschlagen wurde, ist inzwischen von der institutionalisierten NGO-Landschaft selbst korrumpiert. Denn Konsumverzicht galt als Zumutung in einer Zeit der sattesten Verhältnisse, die Österreich je erlebt hatte. Ökos wurden verdächtigt, gerade Nichtprivilegierte zu belehren und ihnen ihren moralisierenden Konsumverzicht aufzudrängen. Öko wurde zum Schimpfwort, galt als Spaßbremse. Daher wurde der Kurs radikal geändert. Kommunikationsstrategien aus der kommerziellen Marktwirtschaft wurden in den Ökoszenen wie auch in der Grünen Partei selbst etabliert. Kampagnen auf der Straße wurden zunehmend von jungen, schlecht bezahlten Menschen übernommen, die nicht mehr in die NGOs eingebunden waren. Deren Erfahrungen flossen nicht mehr in die Organisationen mit ein, die neue Strategie wurde als Professionalisierungsschub und Arbeitsteilung verstanden. Die Folgen sind heute spürbar: Kommerzialität und Widerstandkultur sind vermischt, Kapitalismuskritik wird ausgeklammert, ökologisches Engagement ist zu einem kostenpflichtigen Spendenprogramm für eine Lebenseinstellung mutiert. Aus dem Dilemma kamen die großen Umweltorganisationen seit der Jahrtausendwende nicht mehr heraus. Ihre Radikalität, ihre Konsumkritik ging verloren. Zurück bleiben Marken, Bilder, Logos, Slogans und Kooperationen mit fragwürdigen Unternehmen, die durch Corporate Responsibility ihr Umweltimage aufpolieren. Es geht nicht mehr um einen Wandel der Produktionsverhältnisse und um systemisches Umdenken, es geht um Lebensstil statt um eine politische Debatte.
Besorgte Mütter. Die Ökologiebewegung war nie eine Einheit, sondern zerfiel entlang ideologischer Linien bereits früh in linke Gruppen und rechte oder besser: rechtskonservative oder auch religiöse (katholische oder evangelische) Aktivist_innen, die den Wert des Lebens auch durch ein Abtreibungsverbot absichern wollten. Diese Bewegungen überlappten sich zeitlich und räumlich in den 1970er und frühen 80er-Jahren: Frauengruppen, Ökologie und alternativer Lebenswandel in Schul-, Kindergruppen, Wohn- und Arbeitsprojekten, Friedensinitiativen, Dritte-Welt-Bewegte. In den 1970ern und direkt nach dem Supergau in Tschernobyl 1986 entstanden in Österreich Frauengruppen wie „Mütter gegen Atomenergie“, die ihre Mutterrolle strategisch essenzialistisch aufluden. Ihre Rolle als Versorgende und Leidtragende bei einem atomaren Krieg oder einer radioaktiven Verseuchung wie bei Reaktorunfällen war zentrales Thema ihrer Straßenaktionen. Auch die Tonalität der Petitionen, in denen die Sorge um die Kinder, Sorge um eine dauerhaft verseuchte Umwelt durch Langzeitfolgen formuliert wurden, waren machtvoll in der Auseinandersetzung mit Experten, die damals auf Seiten der E-Wirtschaft und seitens der Technik- und Naturwissenschaftler im Schlepptau der Atomlobbyisten ausschließlich männlich waren. „Hier steht die Seite des Lebens, der Zukunft, der Natur als Basis für alles Menschliche, hier steht die Verantwortung, die Nachhaltigkeit, die Mäßigung!“ Auf der anderen Seite, so die damalige Sprach- wie Argumentationsstrategie, steht der Profit, die Bürokratie der Vernichtung, die bezahlte Expertise, die getarnte Aufrüstung und der Sicherheits- und Überwachungsstaat – denn Atomkraftwerke sind immer anfällig, so auch Labore mit gentechnisch veränderten Organismen. Freda Meissner-Blau, erste Parteivorsitzende der Grünen, erzählte immer wieder, wie wirksam kleine Frauengruppen in der Atomfrage damals waren. Denn gegen ihre emotionalen Bedenken, gegen ihre beharrlichen Fragen zu Atommüll, zu Endlagerung, zu Versicherung bei Unfällen, die simpel gestellt wurden und die mit der Logik „Wir hier unten, ihr dort oben!“ arbeiteten, gab es wenig einzuwenden. Damals standen zumeist Studentinnen und Hausfrauen nebeneinander und solidarisierten sich, was heute angesichts einer neoliberalen Erwerbsgesellschaft, die Karrierefrauen als Norm für modernistische Frauenentwürfe konstruiert, schräg erscheint.
Gegen das Stillhalten. Aktuell ist es unmöglich, Mütter als Einheit oder gar als ökologische Avantgarde zu stilisieren, auch wenn bei Wahlen immer wieder sichtbar wird, dass Frauen in Österreich eher grün und rot als blau wählen. Viel zu zerrissen und segmentiert sind Generationen von Frauen heute nach Klasse, Alter, Wohnlage und Berufskultur, nach Lebensstil und habituellen Mustern aufgespalten. Diese Sensibilität für Differenzen ist nicht zu kritisieren. Dennoch wäre eine gebündelte Bewegung dringlicher denn je. Die wesentliche Frage ist daher: Wie sind ökologische, politische und gesellschaftliche Veränderungen in einer heterogenen Szenerie möglich, gerade angesichts eines dominanten Rechtspopulismus, der auch brennende ökologische Fragen vereinnahmt? Dass Umwelt-NGOs oder Grünen-Politiker_innen dazu schweigen, wenn freiheitliche Politiker_innen ökologische Themensettings übernehmen, ist für die Sache selbst tödlich. Denn wenn Themen diskreditiert sind, nur weil sich die Falschen öffentlich dafür einsetzen, ist das Veränderungspotenzial verspielt. Es braucht heute wieder ein gemeinsames Vorgehen, dort wo Gemeinsames möglich ist; wo Trennendes nötig wird, müssen wir getrennt gehen. Stillstehen und Stillhalten scheidet als Option hingegen aus.
Ulli Weish ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und unterrichtet an der Universität Wien.
(1) 1972 wurde in Österreich das Kernkraftwerk Zwentendorf erbaut, das nach Protesten und einer Volksabstimmung jedoch nie in Betrieb ging.