Warum wir gemeinsam einen anderen Lebensstil entwickeln müssen. Von HILAL SEZGIN
Eigentlich bezeichnet das Wort „Krise“ das akute Zusammenballen und Sich-Auftürmen von Unsicherheiten, Gefahren, Notlagen; definitionsgemäß kann eine Krise eben keine Dauerkrise sein. Stattdessen ist sie diejenige Phase einer unheilvollen Entwicklung, in der alles unerträglich wird; sie entspricht dem Moment, in dem sich die Welle aufbäumt, bevor sie bricht.
Aber das ist das Verrückte an unserer Situation: Immer wieder ist die politische und ökonomische Situation nicht nur für Einzelne, sondern für ganze Bevölkerungen unerträglich, mal hier und mal dort; immer wieder türmt sich eine Riesenwelle auf. Schon kommt die nächste. Aber ehrlich gesagt: Wir Bewohnerinnen der reichen Länder schauen dem Wellengang vom Strand aus zwar nicht ganz ungerührt zu, aber wir beruhigen uns doch immer wieder ziemlich leicht. Kurz raffen wir unser Badetuch zusammen, dann rollen wir es wieder aus. Solange kein Tsunami kommt, vor dem auch wir wegrennen müssten, geht alles noch einmal glimpflich aus … – Für uns mag das stimmen, für die anderen aber nicht.
Arg im Argen. Unser (westeuropäischer) Umgang mit Kriegen und Flüchtlingsbewegungen läuft nach diesem Muster ab, und ebenso der mit dem Klimawandel, der in Zukunft für noch viel mehr Kriege und auch viel stärkere Fluchtbewegungen sorgen wird. Der Klimawandel mag uns Europäer*innen mal einen zu heißen oder einen zu nassen Sommer bescheren, unsere Erntemengen mögen vorübergehend schrumpfen – aber wir können auf dem Weltmarkt alles Nötige zusammenkaufen, unsere Supermarktregale bleiben stets gefüllt. Andere Menschen verlieren alles. Wie lange wollen wir das also noch aussitzen, auf diesem metaphorischen Badetuch? Wie lange noch wollen wir dieses Wissen mit uns herumschleppen, dass alles Mögliche arg im Argen liegt – aber hey, mogeln wir uns halt durch, solange es funktioniert!
In den Vorweihnachtstagen im Dezember 2016, als in Aleppo Zehntausende Zivilist*innen eingeschlossen waren und Twitter-Nachrichten sandten, in denen sie sich von uns Überlebenden verabschiedeten, brach der Fernsehmoderator Daniel Aminati in einer an sich unpolitischen Sendung im deutschen Privatfernsehen mit dem Skript und sprach das groteske Missverhältnis zwischen hiesiger Geborgenheit und dortigem Sterben an, indem er sagte: „Ich weigere mich, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.“ Ich will diese wunderbar ehrliche Aussage keineswegs kritisieren, wenn ich ergänze: Das Problem ist leider, es ist nie alles in bester Ordnung! An keinem einzigen Tag, den wir bisher auf dieser Erde zugebracht haben, war jemals überall Frieden. War keine Ausbeutung von Menschen und Tieren – durch Menschen, die es besser hätten wissen und anders hätten machen können.
Überlebensschuld. Schon während meiner Kindheit in den 1970er- und 1980er-Jahren war uns niemals hungrigen Kindern klar, dass es anderswo hungernde Kinder gab. Wir wurden zur Dankbarkeit angehalten, in der Lotterie des Lebens sozusagen ein besseres Los zugeteilt bekommen zu haben; aber in diese Sorte Dankbarkeit mischt sich auch immer ein wenig irrationale Schuld, eine Art Überlebensschuld: Wieso eigentlich wurden ausgerechnet wir so beschenkt und nicht sie? Heute sehe ich andere Kinder aufwachsen und sich wieder mit demselben Rätsel herumplagen: Warum wir? Warum verbringen die anderen ihre Kindheit mit Hunger oder im Bombenhagel?
Das versteht doch kein Mensch, und es muss auch kein Mensch verstehen, weil es nicht so sein muss. Natürlich wird es immer Ungleichheiten und auch Katastrophen geben, und einige Kinder werden schon im jungen Alter schwerkrank werden, und die Frage „Warum die?“ wird nie aussterben, solange Verletzlichkeit und Tod nicht ausgestorben sind. Aber wenn wir das Foto eines ertrunkenen Flüchtlingskindes an einer Mittelmeerküste sehen oder das von einem anderen Kind, das verstaubt aus einer Mine auftaucht, in der es einen seltenen Rohstoff für unsere Smartphones schürft, können wir Erwachsenen nicht sagen: „Die Welt ist halt so.“ Nein, sie ist nicht so, wir haben sie dazu gemacht.
Dabei sind wir menschheitsgeschichtlich eigentlich in einer neuen, einzigartigen, an Möglichkeiten reichen Situation. Seitdem es Menschen gibt, ist Ressourcenknappheit ein unausweichliches Problem. Seit einigen Jahrzehnten jedoch müsste sie kein bestimmender Faktor unseres Lebens mehr sein, eher wohl: die Ressourcenendlichkeit. Und das ist etwas ganz anderes. Wir haben zwar nicht beliebig viel Land zum Leben, Land zum Anbauen, Trinkwasser, Energie und Luft; aber was wir haben, könnte für alle Menschen reichen.
Dazu müssten wir uns in allen Weltgegenden, in denen es klimatisch möglich ist, rein pflanzlich ernähren. Dann blieben nicht nur über hundert Milliarden von Tieren jährlich von menschlicher Gewalt verschont, sondern es würden auch genug Anbaufläche, Rohstoffe und Ressourcen, die derzeit für die Produktion von Tierfutter benötigt werden, freigesetzt, um nicht nur alle jetzt lebenden, sondern auch die zu erwartenden nächsten zwei bis drei Milliarden weiteren Menschen ernähren zu können. Wir müssten die politische Bereitschaft aufbringen, diese Ressourcen dann auch gerecht zu verteilen. Und wir müssten mit dem Statusdenken aufhören und das Karussell der Moden anhalten, bei der Kleidung oder aber in der Unterhaltungsindustrie, weil es uns dazu bringt, jedes Jahr und jede Saison neue Kleider, Kosmetikfarben, Einrichtungsgegenstände und Handys zu „brauchen“.
Spätestens hier scheiden sich die Geister. Die einen empfinden Schrecken angesichts dessen, was auf sie zukommen könnte: Verzicht. Doch auch unsere momentane, sozusagen luxuriöse Lebensweise bedeutet, dass wir auf anderes verzichten, es ausschlagen oder verlieren. Nicht nur in China, auch in Europa gibt es jährlich zum Beispiel Hunderttausende von Todesfällen durch Luftverschmutzung. Einen großen Teil verursacht unsere stickstoff- und güllelastige Landwirtschaft, ein weiterer Teil geht auf Verkehrsemissionen zurück. Natürlich kann man sagen: Wir haben tolle Autos und Kühlschränke mit zig Sorten Wurst, Käse und Eiscreme darin. Aber wir haben eben auch weniger saubere Luft.
Schließlich bezahlen wir den vielen Luxus mit Zeit und Nerven: Ja, wir können uns jedes Jahr neu überlegen, was Gut-angezogen-Sein bedeutet; aber dafür müssen wir auch shoppen und planen und pflegen. Unsere Kinder waren bei Schuleintritt schon in einem halben Dutzend verschiedener Länder, beherrschen Hip-Hop und den Grundwortschatz von drei Sprachen; dafür führen wir fünf verschiedene Terminplaner; die Kleinen haben kaum je Zeit, einfach mal irgendwo rumzuhocken, sich zu langweilen und Muster in den Wolken zu entdecken; und ausgerechnet die Sprache ihrer neuen Nachbarn sprechen sie vermutlich nicht.
Hiergeblieben. Uns Erwachsenen haben viele Maschinen und Geräte das Leben erleichtert, aber dann fällt uns auf, dass uns vom vielen Rumhocken an den arbeitserleichternden Geräten der Rücken schmerzt, und wir buchen im Fitnessstudio einen Platz an weiteren, diesmal die Bewegungen erschwerenden Geräten (und haben ein schlechtes Gewissen, weil wir zu selten hingehen). Nun will ich natürlich nicht behaupten, dass wir die Waschmaschinen abschaffen und die Wäsche wieder im Fluss schrubben sollten; doch wir müssen uns darüber klarwerden, dass wir eine unglaublich aufwendige Lebensweise pflegen, die nicht nur in puncto Ressourcen und Energie aufwendig ist – sondern auch für uns.
Wenn wir uns also fragen, was die eine, wichtigste politische Aufgabe für die nächsten Jahre ist, so müsste diese lauten: weniger verbrauchen. Einen neuen Lebensstil entwickeln, der sich nicht ums Kaufen und Besitzen dreht, sondern ums Innehalten, Wertschätzen, Lieben und Erleben. Die Änderung einer Lebensweise ist zum Glück keine solitäre Anstrengung, keine einsame Angelegenheit. Gemeinsam haben wir ein klammheimliches Wettbewerbsformat entstehen lassen, in dem man befürchten muss, abgehängt zu werden, wenn man zum Beispiel nicht jährlich von einer Fernreise berichten kann. Doch wenn wir gemeinsam im Sommer hierblieben – was könnten wir vielleicht alles tun?
Hilal Sezgin ist Schriftstellerin, Philosophin, Feministin und Tierrechtlerin. Soeben von ihr erschienen: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“. DuMont Buchverlag, Köln 2017
1 Kommentar zu „Runter von diesem Badetuch!“
mA, sehr schön und deutlich geschrieben, gehe jetzt direkt das Buch auftreiben.