Die Yezidin NADIA MURAD BASEE TAHA war drei Monate in der Gefangenschaft des IS. Es gelang ihr die Flucht. Sie hatte den Mut, der Welt ihre Geschichte zu erzählen. ELENA KOSTYUCHENKO von der russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ hat sie protokolliert.
Nadia Murad Basee Taha ist 21 Jahre alt, sie ist Yezidin und kommt ursprünglich aus dem Dorf Kocho (Nordirak, Kurdistan). Am 16. Dezember 2015 sprach Nadia Murad Basee Taha vor dem UN-Sicherheitsrat über den vom IS begangenen Völkermord an den YezidInnen. Die irakische Regierung hat sie als Kandidatin für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
„Unser Dorf hatte etwa 2.700 BewohnerInnen. YezidInnen leben sehr einfach. Wir bauen Weizen und Gerste an. Ich hatte acht Brüder und zwei Schwestern. Ich habe Geschichte geliebt und wollte Lehrerin werden. Vom IS habe ich zum ersten Mal im Juni gehört, als Mossul besetzt wurde. Im Fernsehen gab es Nachrichten darüber, aber wir haben nicht gedacht, dass die Kämpfer zu uns kommen. Wir haben
nicht einmal die Türen unserer Häuser verschlossen.
Mossul. Am 3. August 2014 eroberte der IS die Stadt Sindschar. Die Soldaten töteten auch in den umliegenden yezidischen Dörfern etwa dreitausend Menschen, viele Frauen und Mädchen wurden gefangengenommen. Wir wurden in einer örtlichen Schule versammelt. Allen wurde angeboten, zum Islam überzutreten, aber niemand hat das getan. Dann wurden die Männer erschossen. Darunter waren sechs meiner Brüder und fünf Cousins und viele andere Verwandte.
Den Frauen wurden Tücher und Jacken weggenommen, damit wir unsere Köpfe und Gesichter nicht verstecken konnten. In der Schule wurden wir in Gruppen eingeteilt – Kinder, verheiratete, ältere und junge Frauen. Meine Gruppe bestand aus etwa 150 Mädchen im Alter von neun bis 25 Jahren.
Man hat uns in den Park gebracht. Da wurden achtzig ältere Frauen getötet, weil die Soldaten sie nicht wollten. Unter diesen Frauen war auch meine Mutter.
Ein Großteil der Mädchen wurde nach Mossul zum Hauptsitz des IS gebracht, auch ich kam dorthin. Der Rest wurde nach Syrien geschickt. Aus meiner ganzen Familie sind nur meine drei Nichten bei mir geblieben. Sie waren damals 15, 16 und 17 Jahre alt. Die Fenster in unserem gemeinsamen Zimmer waren schwarz verhangen, wir wussten nicht, ob es Tag, Morgen oder Nacht ist.
Hadschi Salman. Am Abend des 18. August sind etwa hundert IS-Kämpfer zu uns gekommen. Sie haben sich Frauen ausgesucht. Viele Mädchen sind ohnmächtig geworden, andere haben vor Angst erbrochen. Doch die Männer haben weiter gewählt, wen sie wollten.
Unser Zimmer wurde von einem sehr großen Mann betreten. Er war groß wie ein Schrank, so als ob er aus fünf Menschen zusammengesetzt wäre. Ganz in schwarz. Er kam auf mich und meine Nichten zu. Die Mädchen haben sich an mich geklammert und haben vor Schrecken geschrien.
Im Erdgeschoss wurde in Listen vermerkt, welches Mädchen mit wem mitgeht. Während man meinen Namen in der Liste gesucht hat, habe ich die Füße von jemandem nicht so großen gesehen. Ich bin auf den Boden gefallen und habe diese Füße umarmt. Ich habe dem Mann nicht mal ins Gesicht geschaut. Ich habe gesagt: ‚Bitte, nimm mich, wohin du nur willst, nur befreie mich von diesem Mann, ich habe Angst vor ihm.‘ Und dieser junge Mann sagte auf Arabisch zu dem riesigen: ‚Ich will dieses Mädchen. Ich nehme es mit.‘ Dieser Mann hieß Hadschi Salman, er war ein Feldkommandeur von Mossul. Er hatte sechs Wächter und einen Fahrer. Einer von ihnen sollte mir den Koran beibringen.
Bei sich zu Hause bat mich Hadschi Salman, zum Islam zu konvertieren. Ich antwortete: ‚Wenn Sie mich nicht zwingen, mit Ihnen zu schlafen, dann werde ich den islamischen Glauben annehmen.‘ Er sagte: ‚Nein, du wirst trotzdem unsere Frau, ich habe dich dafür gewählt.‘ Er zog sich aus und befahl mir, mich ebenfalls auszuziehen. Ich sagte: ‚Ich bin krank. Als unsere Männer getötet wurden, begann ich zu menstruieren. Ich bin krank, ich kann keinen Mann empfangen.‘ Er zwang mich trotzdem, mich auszuziehen. Als er sah, dass ich tatsächlich blute, hat er mich für diese Nacht in Ruhe gelassen.
Am nächsten Abend hat mir sein Fahrer Sachen gebracht und von Hadschi Salman ausgerichtet, dass ich mich waschen, schminken und ankleiden soll, weil er gleich kommen würde. Ich wusste, dass mir keine Wahl blieb, und habe gehorcht. Er hat mich vergewaltigt. Bis zu diesem Abend war ich Jungfrau gewesen. Seine Wächter, Fahrer und andere Kämpfer haben gehört, wie ich geschrien und um Hilfe gebeten habe, aber es war ihnen egal.
Vor Gericht. Am nächsten Tag hat man mich ganz in Schwarz gekleidet. Man brachte mich zu einem islamischen Gericht von Mossul, einem IS-Gericht. Als ich dort ankam, sah ich Tausende Mädchen wie mich, mit verhüllten Köpfen und in Schwarz, neben jedem ein Kämpfer. Der Richter hat den Koran über unseren Köpfen gelesen, und wir wurden gezwungen, die Worte zu sagen, mit denen man zum Islam übertritt. Danach wurde ein Foto von jedem Mädchen gemacht und an die Wand geklebt, unter jedem Foto stand eine Telefonnummer. Unter meinem Foto stand die Nummer von Hadschi Salman geschrieben. Das hat folgenden Grund: IS-Kämpfer dürfen kommen, um sich die Fotos anzusehen. Wenn ihnen ein Mädchen gefällt, können sie die Nummer anrufen und es sich schicken lassen. Dafür wurde mit Geld oder mit Gegenständen gezahlt. Man konnte uns mieten, kaufen oder auch verschenken.
Kirkuk. Ich habe einen Fluchtversuch unternommen. Eines Abends kletterte ich über den Balkon in den Garten, doch dort hat mich ein Wächter gefangen. Für diesen Versuch zu entkommen hat mich Hadschi Salman seinen sechs Wächtern gegeben. Ich erinnere mich noch, wie mich drei vergewaltigt haben. Dann verlor ich das Bewusstsein, und ich weiß nicht, wie viele mehr es waren.
Danach konnte ich drei Tage nicht aufstehen. Niemand kümmerte sich um mich. Manchmal hat man mir Essen gebracht. Am vierten Tag bin ich aufgestanden, habe mir den Kopf gewaschen und mich unter die Dusche gestellt. Dann haben mich zwei Männer aus Hamdaniyah gekauft.
Ich war zwei Wochen lang bei diesen Männern, bei jedem für eine Woche. Dann ist ein IS-Fahrer aus Mossul gekommen und hat mich zu sich geholt. In der dritten Nacht sagte er zu mir: ‚Ich hole gleich schöne Kleidung für dich, du musst gut aussehen. Es kommen bald Leute, die sich dich anschauen werden, und wenn du ihnen gefällst, kaufen sie dich.‘
Das war spätabends. Kaum war er weggegangen, lief ich aus dem Haus und rannte an vielen Häusern vorbei, bis ich an irgendeine Tür geklopft habe, und man mir aufgemacht hat. Es war dunkel, ich wusste nicht, wer drin ist, aber ich bin eingetreten.
Drinnen saß eine arme Familie mit Kindern. Der Mann hat mir erlaubt, dort zu übernachten. Einer meiner überlebenden Brüder arbeitet in Kurdistan, ihn habe ich angerufen und er hat dieser Familie Geld überwiesen. Dafür haben sie mir den muslimischen Ausweis der Dame des Hauses und schwarze Kleidung gegeben und mich mit einem Taxi zum Bruder nach Kirkuk geschickt.
Viele meiner Verwandten wurden ebenfalls vergewaltigt und verkauft. Eine Schwester von mir ist jetzt in Deutschland, eine andere in Kurdistan. Von zwei meiner Nichten gibt es keinerlei Information. Die Männer, die uns gekauft und verkauft haben, hatten kein Mitleid mit uns. Über 3.400 YezidInnen – Frauen, Kinder, ältere Frauen und junge Mädchen – sind verschwunden. Man hört, sie wurden bereits getötet. Man sagt, viele hätten Suizid begangen. Aber niemand weiß wirklich Bescheid über ihr Schicksal. In diesem Augenblick werden Mädchen und Frauen verkauft und vergewaltigt. Aber das Gewissen der Menschheit ist nicht erwacht, und es gibt niemanden, der diese Frauen befreit.“
Nadia Murad Basee Taha ist heute in einem ZeugInnenschutzprogramm der EU. Elena Kostyuchenko haben wir in an.schläge 11/2014 zu ihrer journalistischen Arbeit interviewt.
Übersetzung aus dem Russischen: Jeanna Krömer