Fehler macht jede*r. Was aber als schlimmer Fehler gilt, was entschuldbar ist und mit welchen Konsequenzen jemand zu rechnen hat, darüber entscheidet die gesellschaftliche Rollenerwartung – und oft auch einfach das Geschlecht. Von Linda Kreuzer
2022 haben drei international bekannte Politikerinnen durch ihre öffentlich eingestandenen Fehler für mediales Aufsehen gesorgt. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einer Bundestagsrede die sogenannte „Osterruhe“, den angekündigten Lockdown, als „Fehler“ bezeichnet. Sie erklärte die Umstände, die gute Absicht, aber auch die schlechte Umsetzung, für die sie allein die Verantwortung übernehmen würde: „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler, denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. (…) Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.“
Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin sah sich im August 2022 nach dem Publikwerden von privaten Partyfotos mit Tränen in den Augen dazu gezwungen, sich öffentlich zu erklären, einem Drogentest zu unterziehen und sich dafür zu entschuldigen, dass sie mit Freund*innen gefeiert, Alkohol getrunken und getanzt hatte.
Jacinda Ardern, ehemalige Premierministerin von Neuseeland, bezeichnete im Herbst 2022 den Oppositionspolitiker David Seymour nach einer Parlamentsdebatte als „arroganten Arsch“. Durch ein unabsichtlich angelassenes Mikrofon konnte die Öffentlichkeit daran teilhaben. Sie entschuldigte sich bei Seymour und beide starteten mit dem signierten Ausdruck des Protokolls dieses Sagers ein Benefizprojekt zugunsten von Prostatakrebspatienten. Arderns Verständnis von Politik war in ihrer Zeit als Premierministerin durch ein starkes Verantwortungsbewusstsein geprägt. Ihr aufrichtiges Bemühen um Gerechtigkeit, das etwa in ihrer offiziellen und von den Betroffenen als authentisch wahrgenommene Entschuldigung für die rassistische Politik zum Ausdruck kam, haben ihre Amtszeit ausgezeichnet. Auch für das ungleich härtere Vorgehen in Migrationsangelegenheiten gegenüber der pazifischen Bevölkerung in den 1970er-Jahren, das unter dem Begriff „dawn raids“ (Razzien im Morgengrauen) bekannt geworden ist, bat Ardern um Verzeihung. Warum also sind Politikerinnen offensichtlich eher dazu bereit, Fehler öffentlich einzugestehen?
Patriarch & Schlitzohr. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ veröffentlichte 2013 einen Text mit dem Titel „Das Berlusconi-Syndrom“. Die Auseinandersetzung mit dem insgesamt viermaligen Ministerpräsidenten Italiens Silvio Berlusconi und dessen Liste an strafrechtlich relevanten Vergehen während seiner Amtszeiten füllt bereits Bücher. Korruption, Betrug, sexuelle Gewalt. Wenn er irgendwann einmal begonnen hätte, sich für sein Verhalten zu entschuldigen bzw. zu verantworten, wir wären vermutlich noch mitten in der Aufnahme. Seine Beliebtheitsgrade unterlagen immer wieder Schwankungen und doch reichten die Zustimmungswerte des von vielen bewunderten Politikers für seine mehrmalige Wiederwahl. Politische Entwicklungen sind immer komplex, in der Analyse dieses Phänomens erweisen sich zwei Faktoren aber als besonders aufschlussreich: die Frage nach dem Geschlecht bzw. der sozialen Kontrolle und die der Macht. Der Politikstil der Person Berlusconi bedient zwei unterschiedliche Bilder zugleich: Das des mächtigen und erfolgreichen Patriarchen und das des schlitzohrigen, lustigen Buben, der eben nicht anders kann, als seinen Impulsen zu folgen. Die Ehrfurcht, der Respekt vor Macht und Geld, dabei aber auch der fast zärtliche Blick auf den „Lebemann“, der sich beim Anblick schöner Frauen nicht im Griff hat, ist als Folie auf viele aktive, großteils dem rechtspopulistischen Lager zuzuordnenden Politiker übertragbar.
„Buberl-Partie“. Die sogenannte „Buberl-Partie“ in der FPÖ wurde zwar belächelt, allerdings erlaubt einem das „Bubsein“ auch den einen oder anderen „Schnitzer“. Ob Liederbücher mit nationalsozialistischem Gedankengut, rassistische oder sexistische Aussagen, Hetzen gegen Minderheiten, Korruption und Veruntreuung oder politische Fehlentscheidungen – unter österreichischen Politikern sind das Eingestehen von Fehlverhalten, die aufrichtige öffentliche Entschuldigung und Rücktritte als Konsequenz genauso wenig üblich wie im Nachbarland Italien. Die Politikerin Ulrike Lunacek hingegen trat nach nur vier Monaten im Amt als Staatssekretärin für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport zurück, weil ihr Fehlentscheidungen und mangelnde Eignung vorgeworfen wurden. Vorwürfe, die viele Politiker höchstwahrscheinlich einfach an sich abprallen hätten lassen.
Rollenerwartungen. Öffentliche Debatten über politische Fehlerkultur sind eine relativ neue Erscheinung. Entsprechend wenig systematisch beforscht sind laut den Politikwissenschaftler*innen Petra Dobner und Torben Fischer Fehler in der Politik im Zusammenhang mit Gender. Fehler eingestehen und dafür Verantwortung übernehmen ist in vielen Ländern jedenfalls keine besonders weit verbreitete politische Tugend. Auch die Definition und das Verständnis von politischer Fehlbarkeit hat sich durch Demokratisierungs- und Säkularisierungsprozesse stark verändert. Eine absolute Monarchin des 7. Jahrhunderts wie die chinesische Kaiserin Wu Zetian musste sich vermutlich, so zumindest die Quellenlage, vor niemanden für die von ihr zu verantwortenden eine Million Todesopfer während ihrer Regentinnenschaft entschuldigen.
Der Niedergang demokratisch nicht legitimierter politischer Herrschaft, die Religionskritik und die Idee von universalen Menschenrechten führten historisch zu einem neuen politischen Subjekt und zu einem neuen Verantwortungsverständnis. Sprich: Das Individuum wurde für seine Fehler verantwortlich gemacht. Allerdings galten und gelten dieselben Regeln nicht für alle Menschen, intersektionale Diskriminierungsfaktoren entscheiden weiterhin darüber, wem etwas verziehen wird und wem eben nicht. Geschlechterrollen sind mächtige Ordnungssysteme und dienen dem Machterhalt innerhalb von Gesellschaften.
Scham. Doch da Rollenerwartungen zunächst erlernt werden müssen, kommt den jeweiligen Erziehungskonzepten eine zentrale Bedeutung zu. Und der Umgang mit Fehlern, wem etwas warum und von wem nachgesehen wird, gründet sich schon in der Erwartungshaltung an Kinder. Dass „Buben eben wilder und Mädchen ruhiger sind“ ist ein Stehsatz, der trotz jahrzehntelanger feministischer Aufklärungsarbeit reproduziert wird.
Fehlverhalten von Kindern wird von den Erziehungsberechtigten, dem Umfeld und den Erziehungseinrichtungen oft entsprechend dem Rollenverständnis geahndet. Ein Mädchen, das aggressiv und laut auftritt, wird meist strenger gemaßregelt als ein Junge, der Lärm macht. Vordergründig gelten zwar oft die gleichen Strafmaßnahmen, die soziale Bestrafung durch die Enttäuschung der Erwartungshaltung von (noch dazu oft geliebten) Autoritätspersonen wirkt allerdings bei Kindern oft nachhaltiger als zum Beispiel Handyverbot oder Verweise. Diese Angst davor, die Erwartungshaltung zu enttäuschen, ist ein grundlegender Motor des Phänomens der Scham. Und Scham ist eine der wirksamsten sozialen Kontrollmechanismen. Wer schamlos agiert, setzt sich über alle moralischen Grenzen des Systems hinweg. Der Psychologe Wolfgang Kalbe kommt in seiner Studie über Scham zu dem Ergebnis, dass Frauen Scham oft intensiver erleben als Männer. Scham als Konsequenz von (vermeintlichem) Fehlverhalten wird als moralischer Kompass eingesetzt. Menschen, die keine Scham empfinden, haben auch ein vermindertes Schuldempfinden. Sanna Marin hatte bei ihrer Entschuldigung für ihr Partyfoto bzw. dem kurzen Tanzclip sichtlich mit ihrer Fassung zu kämpfen. Sie schämte sich, aus ihrer Rolle gefallen zu sein. Silvio Berlusconi blickt bei jeder Gelegenheit selbstbewusst und stolz in die Kamera. •
Linda Kreuzer hat Katholische Theologie und Philosophie studiert. Sie unterrichtet an verschiedenen Bildungseinrichtungen in Wien.