Die Liebe zwischen Schwestern ist oft groß. Die Popkultur hingegen dämonisiert Schwesternpaare gerne – oder inszeniert sie als Objekte der Schaulust. Von Sonja Eismann
Willst du einen Schneemann bauen? Los, komm und spiel mit mir!« Die fünfjährige Anna klopft aufgekratzt an die Zimmertür ihrer drei Jahre älteren Schwester Elsa. Sie möchte mit ihr Zeit verbringen, wie früher, als sie noch wie „Pech und Schwefel“ waren. Doch Anna kommt nicht. Weil sie mit ihren unbeherrschbaren Kräften die kleine Schwester verletzen, ja, sogar töten könnte.
„Hallo Danny. Komm und spiel mit uns. Für immer. Und immer. Und immer.“ Die Zwillinge Alexa und Alexie Grady, Hand in Hand und in adretten Kleidchen, erscheinen am Ende eines schummrigen Hotelflurs. Sie flüstern wie unheilvolle Sirenen auf den kleinen Danny ein, der sie entsetzt von seinem Dreirad aus beobachtet. Im nächsten Moment liegen sie erschlagen in einer Blutlache vor ihm.
Diese beiden ikonischen Popkulturmomente umreißen die Extreme des Spektrums, innerhalb dessen Schwesternschaft gedacht wird: Als beschützende, gigantische Liebe, die mit keiner anderen Beziehung im Leben vergleichbar ist. Und als unheimliche, undurchdringliche Geheimverbindung, die Tod und Verderben bringt. Doch egal, ob es sich um die Feier der Schwesternliebe in den Disney-Animationsfilmen „Frozen“ oder um die vom eigenen Vater ermordeten Grady-Twins aus Stanley Kubricks Horrorklassiker „The Shining“ handelt, die Verwandtschaft zwischen weiblichen Geschwistern scheint vor allem eins zu sein: magisch.
DOMINANZ DER BRÜDER. Dabei hat Schwesternschaft historisch – im Patriarchat kaum überraschend – sowohl kulturell wie rechtlich immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Wir kennen viele Gebrüder wie die Grimms oder die Humboldts, doch berühmte Schwestern wie die Schriftstellerinnen Charlotte, Emily und Anne Brontë oder die feministische Autorin Virginia Woolf und die Malerin Vanessa Bell (von denen viele Menschen wahrscheinlich nicht einmal wissen, dass sie Geschwister waren), sind im kollektiven Gedächtnis kaum verankert. Denn das Konzept der Brüderlichkeit, das sich bereits in der Stoa der griechischen Antike findet und auch in der Bibel immer wieder eingefordert wird, soll(te) mal wieder, wie das generische Maskulinum in der Sprache, alle „mitmeinen“. So ist es z. B. in Deutschland, im Gegensatz zu Österreich, wo lautstark um die Inklusion der „Töchter“ in die Nationalhymne gestritten wurde, nie zu einem Eklat um die Zeilen „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland / Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand!“ gekommen. Schon klar, Väter bekommen Söhne, die werden Brüder und machen unter sich die Nation aus. Dass eine der einflussreichsten extrem rechten Politikerinnen der EU einer Partei mit dem Namen „Fratelli d’Italia“, also Brüder Italiens, vorsteht, erscheint da so absurd wie folgerichtig.
„HAPPINESS IS A FEMININE PARTNER“. Dank feministischer Perspektiven wissen wir heute zum Glück: Dass etwas nicht repräsentiert wurde, heißt nicht, dass es nicht existiert hat. Und so war höchstwahrscheinlich schon in vergangenen Jahrhunderten wahr, was eine Studie an der Pennsylvania State University unter der Leitung von Susan McHale dieses Jahr herausgefunden hat: nicht nur, dass die Bindungen zwischen Geschwistern zu den prägendsten in menschlichen Biografien zählen, sondern dass die zwischen Schwestern besonders positiv sind: „Happiness is a feminine partner“. Dass die „Frozen“-Filme zum ersten Mal die zentrale Bindungs- und damit auch Liebesgeschichte zwischen zwei mutigen Schwestern – und nicht etwa zwischen strahlendem Prinz und zu rettendem Aschenputtel – stattfinden ließen, hat sicherlich zu ihrem phänomenalen Erfolg beigetragen. Ein Großteil der Mädchen der Gen Z und Alpha ist von der schwesterlichen Lovestory zwischen Anna und Elsa geprägt und hat damit eine völlig andere Blaupause zur Verfügung als frühere Generationen, die die Hardcore-Misogynie der Grimm-Märchen mit ihren mörderischen, missgünstigen Stiefmüttern und -schwestern (Stichwort Aschenputtel) im angezuckerten Disneyformat ertragen mussten.
Denn während Schwesternschaft früher häufig als oberflächliches Getratsche oder als Rivalität um Attraktivität und (männliche) Aufmerksamkeit dargestellt wurde – wie etwa in dem Hollywood-Film „What Ever Happened to Baby Jane?“, in dem Bette Davis als vergessener, gealterter Kinderstar Jane und Joan Crawford als ihre immer noch erfolgreiche Schwester Blanche sich gegenseitig umbringen wollen – multiplizieren erfolgreiche Schwestern-Stars ihre Strahlkraft heute gegenseitig. Die Kardashians und die Jenners, die Hadids, Beyoncé und Solange Knowles, Serena und Venus Williams sind Power-Packages, die trotz mitunter öffentlich ausgetragener Streits demonstrieren, dass Blut eben doch dicker ist als Wasser – und gemeinsam alle noch heller glänzen.
STARSCHWESTERN. Trotzdem ist die Sichtweise auf berühmte Schwestern heute immer noch eine andere als die auf Brüder. Denn auch wenn ihre Beziehungen untereinander nicht mehr durch einen sexistischen Male Gaze verzerrt sind, der ihnen wie bei „Baby Jane“ unterstellt, sie seien vor Neid aufeinander zerfressen, sorgt dennoch eine andere Form des Male Gaze für die höhere Aufmerksamkeit im Gegensatz zu Brüder-Stars. Denn weibliche Celebritys sind nach wie vor stärker Objekte der Schaulust und heizen durch glamouröses Aussehen Sehnsüchte an. Dabei bricht sich hier eine Besonderheit Bahn, die für den Kapitalismus ganz besonders im Zeitalter des Massenkonsums und der bildbasierten Medien charakteristisch ist: Das Prinzip der Serialität führt dazu, dass die Ähnlichkeit der Starschwestern, die, zynisch gesprochen, in gewisser Weise dasselbe Produkt in mehrfacher, variierender Ausführung bieten, zu einem gesteigerten Marktwert führt: more of the same. Das zeigt sich schon früh bei der angeblich ersten deutschen Girlgroup, den Jacob Sisters, die 1958 von Sachsen in die BRD übersiedelten und ab Ende der 1950er-Jahre erste Erfolge als Schlager-Quartett feierten. In Aufnahmen alter Fernsehauftritte sieht man sie in exakt gleichen Outfits mit identischen blond gefärbten, toupierten Frisuren ihre humorvollen Lieder präsentieren und versteht die Faszination, die dadurch auf die Zusehenden übertragen werden soll: viermal die Gleiche, aber nicht Dasselbe.
„WE ARE FAMILY“. Die Geschichte der Popkultur ist voll von Schwesternbands wie den Pointer Sisters, den Shangri-Las, den Bobbettes, den Shaggs oder, in jüngerer Zeit, First Aid Kit oder Blond. Eine von ihnen, Sister Sledge, schuf 1979 mit dem Stück „We are Family“, in dem solidarische Schwesternschaft auf einer familiären wie auch symbolischen Ebene besungen wurde, gleich noch eine Hymne der Frauenbewegung.
Eine besondere Bedeutung kommt hier Bands von Zwillingsschwestern wie Ibeyi, Tegan & Sara oder Doctorella zu, weil vor allem weibliche Zwillinge medial eine noch größere Sogkraft haben. Ähnlichkeit bzw. Vergleich- und Verwechselbarkeit scheinen hier auf die Spitze getrieben. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, warum Stars wie die Olsen-Twins, die Content-Creators Lena und Lisa oder auch die Kessler-Zwillinge eine solche Anziehung ausüben. Denn in der Logik kapitalistischer Schaulust ist eine normschöne Person wertvoll, zwei Versionen potenzieren diesen Wert jedoch.
SCHWESTERNLIEBE. Instinktiv würde man vermuten, dass diese Schaulust besonders auch im Bereich der Pornografie zum Tragen kommt. Interessanterweise scheint hier das Genre des „Twincest“ – abgeleitet vom in den letzten Jahren stark nachgefragten „Incest“-Thema, bei dem auf der Suche nach immer neuen Tabubrüchen Suchbegriffe wie „Mother“ oder „Stepdaughter“ benutzt werden – fest in männlicher Hand zu sein. Vor einigen Jahren verursachten die tschechischen Zwillingsbrüder Elijah und Milo Peters in der schwulen Pornoszene Aufruhr, als sie nicht nur für die Kamera Oral- und Analsex aneinander performten, sondern auch angaben, privat als Liebespaar zu leben. Ähnlich prominente Fälle von weiblichen Zwillingen sind bis jetzt nicht bekannt – vielleicht, weil der Schock einer penilen Penetration mehr Aufmerksamkeit verspricht.
Der grausamen Realität von häufig als „Inzest“ bezeichneter sexueller Gewalt gegen Kinder in der Familie stellt sich die französische Autorin Neige Sinno in ihrem fulminanten, autobiografischen Roman „Trauriger Tiger“ entgegen: Um ihre kleine Schwester davor zu bewahren, wie sie selbst von ihrem Stiefvater vergewaltigt zu werden, entscheidet sie sich dafür, den Täter anzuzeigen und einen öffentlichen Prozess gegen ihn zu führen. Und beweist damit, wie groß und heroisch die in der Vergangenheit oft beschwiegene oder als trivial belächelte Schwesternliebe sein kann.
Sonja Eismann ist Missy Herausgeberin und lebt mit ihrem Partner und den zwei gemeinsamen Töchtern in Berlin und ist sehr froh, die enge schwesterliche Bindung auch in der Praxis erleben zu dürfen.