Interview: ANDREAS KEMPER zum Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Klasse. Von LEA SUSEMICHEL
an.schläge: Sie arbeiten hauptsächlich zu den Themen Maskulismus und Klassismus. Welche Verbindungen gibt es zwischen Männlichkeit und Klasse?
Andreas Kemper: Zunächst einmal müssen wir klären, was diese Begriffe benennen: Klassismus bezeichnet klassenbezogene Benachteiligungen, Zuschreibungen und Ausbeutungen, etwa von Arbeiter_innenkindern, Arbeitslosen oder Obdachlosen. Der Maskulismus ist eine antifeministische Abwehrstrategie und vertritt eine Opfer-Ideologie, wonach der „Staatsfe- minismus“ Männer unterdrückt. Sowohl beim Klassismus als auch beim Maskulismus geht es also um Privilegierungen bzw. Diskriminierungen. Es gibt aber auch andere Verknüpfungen. So ist der Maskulismus ein Mittelschichtsprojekt, das sich im Kampf um die Deutungsmacht von Männlichkeit befindet. Maskulisten sehen sich in ihrer Autorität bedroht, was mit ihrer Klassenlage in Zeiten der kapitalistischen Krise zu tun hat. Im Zuge ihrer mittelschichts- und geschlechtsspezifischen Normierungsversuche werden allerdings proletarische Männlichkeiten unsichtbar gemacht. Insofern ist Maskulismus auch klassistisch.
Maskulisten beklagen Jungen als die großen Bildungsverlierer, die durch Mädchenförderung unter die Räder kä- men. Was lässt sich hierauf entgegnen?
Rein statistisch betrachtet erhalten heute mehr Mädchen als Jungen die Zugangsberechtigung zur Hochschule. Maskulisten führen dies auf eine „Feminisierung der Bildung “ zurück und fordern daher mehr „männliche Vorbilder“. Diese Forderung orientiert sich jedoch an einer hegemonialen Männlichkeit, die die Männlichkeiten von Migrant_innen- und Arbeiter_innensöhnen marginalisiert und nicht-heteronormative Männlichkeiten unterdrückt. Zudem erhalten immer noch mehr Männer als Frauen „höhere“ Bildungsabschlüsse, es gibt nach wie vor erheblich mehr Männer als Frauen in hochdotierten und auf einflussreichen Lehrstühlen. Auf lange Sicht sind Frauen noch immer Bildungsverliererinnen.
Hier rächt sich die mittelschichtsfeministische Einstellung zur Bildungspolitik, die unter Gleichstellung nur die Gleichstellung von Frauen mit Männern meint, klassenbezogene Ungleichheiten aber ausblendet. Das macht es Maskulisten leicht, sie schauen ebenfalls nur geschlechtsbezogen auf Ungleichheiten und stellen fest, dass es Mädchen heute häufiger auf die Uni schaffen als Jungen. Jungen werden allerdings nicht generell benachteiligt, insbesondere nicht, wenn sie aus akademischen Elternhäusern kommen. Affirmative-Action-Programme müssten sehr viel genauer schauen, wie Race, Class, Gender ineinander greifen.
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der klassistischen Diskriminierung? Sind die Stereotype und Stigmatisierungen andere?
Klassismus ist stark sexualisiert. Männern aus der sogenannten „Unterschicht“ wird Gewalttätigkeit zugeschrieben, Stichwort „Proll“. Alleinerziehende Mütter erfahren den Klassismus der bürgerlichen Gesellschaft auch auf eine spezifisch vergeschlechtigte Weise, im Englischen gibt es etwa den Begriff der „Welfare Queen“.
Klassenzugehörigkeit wird als ökono- misches und soziokulturelles Phänomen definiert und konstruiert. Da Armut bekanntlich weiblich ist, müssten Frau- en rein quantitativ auch viel stärker von Klassismus betroffen sein. Ist dem so?
Ja, die Verbindung gibt es natürlich. Sehr deutlich wird das, wenn wir den mitteleuropäischen Fokus verlassen und die Verschränkung von Armut und Weiblichkeit im globalen „Süden“ betrachten. In Deutschland zeigt sich diese Verschränkung beispielsweise bei Alleinerziehenden. Knapp vierzig Prozent von ihnen sind in Deutschland auf die Grundsicherung Hartz-IV angewiesen, was zu einem würdevollen Leben kaum ausreicht, zumal Elterngeld, Kindergeld und Betreuungsgeld als Einkommen auf Hartz-IV angerechnet werden – diese Gelder erhalten also nur besser gestellte Familien. Und neunzig Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich.
Symbolisch zeigt sich die Benachteiligung übrigens selbst in feministischen Kampagnen wie „Pinkstinks“: Alleinerziehende Frauen sind oftmals darauf angewiesen, die billigsten Dinge für ihre Kinder zu kaufen, sie können sich kaum gegen die „Pinkifizierung “ wehren. Der Mittelschichtsfeminismus übernimmt die Verknüpfung von Pink mit Gestank und bedient damit das Stereotyp der unreinlichen, stinkenden „Unterschicht“.
Männliche Gewalttäter werden klischeehaft gerne als aggressive Hartz-IV-Empfänger mit Alkoholproblem imaginiert. Tatsächlich jedoch gibt es Männergewalt in allen Milieus, bestimmte Gewaltformen oft in der Mittelschicht, wie Sie schreiben.
Amokläufer sind fast ausnahmslos junge Männer aus der Mittelschicht, die Deklassisierungsängste haben. Wir dürfen die Gewaltbereitschaft junger Männer aus der Mittelschicht nicht unterschätzen. Die NSDAP hatte sich vorwiegend aus diesem Milieu rekrutiert, das Abstiegsängste hatte. Typen wie Anders Behring Breivik aus Norwegen zeigen, dass Mittelschichtsmänner in Zeiten der Krise nicht nur bereit sind, die Ellenbogen auszufahren und rechte Parteien zu gründen, um ihre Privilegien zu schützen, sondern auch zu brutaler Gewalt fähig sind.
Das Beispiel des Amokläufers Elliot Rodger zeigt, dass dieser sexistische Motive hatte, er wurde angeblich von einer Frau „zurückgewiesen“. Rodger machte jedoch deutlich, dass er diese Zurückweisung auch als Nichtanerkennung seiner privilegierten Mittelschichtsmännlichkeit verstand, als Deklassierung. Deswegen „bestrafte“ er jene Frauen, die „Prolls“ einem „Gentleman“ vorzogen. Dennoch wird Gewalt, Gefährlichkeit und Kriminalität eher mit proletarischer Männlichkeit verknüpft. Entsprechend sitzen sehr viel mehr Menschen in Deutschland wegen Fahrkartenerschleichung hinter Gittern als wegen Steuerbetrugs.
Die Naturalisierung von Unterschieden hat in den letzten Jahren wieder Konjunktur, sowohl was die angeblichen biologischen Differenzen zwischen Männern und Frauen betrifft als auch soziale und andere Zugehörigkeiten. Wie beurteilen Sie hier die gegenwärtige Diskurslage?
Wir haben gerade in Deutschland einen bevölkerungspolitischen Backlash.
Hier wurde das Elterngeld eingeführt, das dafür sorgen soll, dass „die Richtigen“ die Kinder kriegen. Die extremen Wahlerfolge rechter Parteien in den reicheren europäischen Staaten zeigen, dass die Privilegierten ihre Privilegien verfestigen wollen. Trotz Wirtschaftskrise werden aktuell in Europa zig Billionen Euro von einer Generation an die nächste vererbt. Diese Vererbung widerspricht dem Leistungsprinzip und muss dieses daher mit einer biologistischen Klausel versehen. Deshalb der „Familialismus“, der das Individuum durch die Familie als Kern der Gesellschaft, als „Keimzelle der Nation“, ersetzt. Die Nazis sprachen nicht nur von „Tüchtigkeit“, sondern auch von „Erbtüchtigkeit“. Das kommt gerade wieder.
Mit rassistischen Diskriminierungen gehen oft klassistische einher, Letztere werden aber weitaus seltener thematisiert. Wie finden diese Verschränkungen aktuell statt?
Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien kennen keine klassenbezogenen Diskriminierungen. Als vor 15 Jahren Heterosexismus aus dem Gesetzeskatalog herausfallen sollte, warnte die Homosexuelle Initiative Wien vor einer Diskriminierungshierarchie, die bestimmte Benachteiligungen mehr fokussiert als andere. Diese Diskriminierungshierarchie besteht auch hinsichtlich des Klassismus: Die Benachteiligung von Arbeiter_innenkindern, von Obdachlosen oder Arbeitslosen usw. – sie gilt in Europa offiziell nicht als Diskriminierung.
Rassismus und Klassismus lassen sich aber kaum trennen. Vom Kastensystem bis zur „Rassenhygiene“ finden sich immer wieder deutliche Verschränkungen. Klassismen wirken häufig rassistisch, zugleich werden Klassen ethnisiert. Wenn zum Beispiel Thilo Sarrazin behauptet, die „Unterschicht“ habe eine erblich bedingt niedrigere Intelligenz, dann liegt ein „Klassenrassismus“ vor, der Klassen als „Rassen“ behandelt. Sarrazin wurde nicht aus der SPD geworfen, weil sein Rassismus mit seinem Klassismus entschuldigt wurde: Er habe sich zwar abwertend gegenüber Türken geäußert, sich aber auch diffamierend gegenüber der deutschen „Unterschicht“ geäußert – daher sei er nicht rassistisch.
Oft waren feministische Aktivistinnen Impulsgeberinnen für die Kritik und Analyse klassistischer Diskriminierung. Dennoch gab es Klassismus auch in der feministischen Bewegung selbst, die ja auch als elitäres weißes Mittelklasseprojekt kritisiert wurde und wird. Wie sehen Sie den gegenwärtigen feministischen Beitrag zur Klassismuskritik?
Es ist kein Zufall, dass die an.schläge und „migrazine.at“ Klassismus thematisieren. Es sind oft feministische – insbesondere queer-feministische – Zusammenhänge, die Klassismus zum Thema machen. Bell hooks benutzte in ihrem Buch „Where We Stand – Class Matters“ den Begriff „classism“ ausschließlich, um den Klassismus des Mittelschichtsfeminismus zu kritisieren. Feministinnen betonen, dass das Private politisch sei, und beleuchten die Reproduktionssphäre – dies sind die Grundlagen für eine Klassentheorie und -praxis, die sich antiklassistisch positioniert. Bei aller Kritik am Mittelschichtsfeminismus würde ich den Klassismus-Ansatz als eine feministische Klassentheorie sehen.
Andreas Kemper ist Doktorand zum Thema Klassismus. Von ihm ist erschienen (zusammen mit Heike Weinbach): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast 2009.