Was bedeutet das Wahlergebnis in der Türkei für widerständige Aktivist*innen und die Debatte in Österreich? Eine Analyse von Alev Korun.
Diesmal war es knapp. So knapp, wie es seit 21 Jahren, seit Beginn der AKP-Herrschaft in der Türkei, noch nie war. Erstmals musste Parteivorsitzender Erdoğan in eine Stichwahl, die Stimmenmehrheit erreichte er mit nur kleinem Vorsprung von 52 Prozent.
Das Wahlergebnis lässt sich auf mehrere Weisen lesen. Trotz massivsten Einsatzes von staatlichen Mitteln für den Amtsinhaber, trotz gleichgeschalteter Medien und durchgeschalteter Reden von Erdoğan auf 24 Fernsehkanälen – während sein Herausforderer nur auf einem einzigen Sender zu sehen sein durfte –, trotz Verhaftungswellen von kurdischen und regimekritischen Aktivist:innen knapp vor der Wahl: Trotz alledem hat es gerade mal für 52 Prozent der Stimmen für Erdoğan gerreicht. Dass selbst die himmelschreiende Präsenz- und Machtschieflage zugunsten des Amtsinhabers keine haushohe Mehrheit zustande brachte, sondern eben bloß eine hauchdünne. Erdoğans Sieg lässt sich freilich auch anders interpretieren. Was muss noch passieren in einem Land, in dem kürzlich über 50.000 Menschen angesichts eines katastrophalen Erdbebenmanagements ihr Leben ließen, Millionen ihr Leben unter der Armutsgrenze fristen und täglich Frauen Opfer von Femiziden werden, die großteils ungeahndet bleiben, bevor diese Regierung endlich abgewählt wird?
Bittere Enttäuschung. Die Antworten auf das Warum sind komplex und haben mit der hundertjährigen Geschichte der Republik Türkei zu tun. Der Nationalismus und Rassismus, die dieses Jahrhundert entscheidend geprägt haben, können jederzeit politisch instrumentalisiert werden. Nicht nur, aber auch durch die AKP. Der Zuspruch von über fünf Prozent für den rechtsextremen dritten Kandidaten im ersten Wahlgang, Sinan Oğan, zeugt auch vom sich ständigen Überbieten von Ultra-Nationalismus und Rassismus in der türkischen Politik. Konsequenterweise hat Oğan für den zweiten Wahlgang eine Wahlempfehlung für Erdoğan abgegeben, trotz der verzweifelten – und beschämenden – Ankündigungen des Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu, als zukünftiger Präsident Millionen syrischer Geflüchteter aus der Türkei deportieren zu wollen. Ein sogenanntes „Schmied-Schmiedl-Spiel“, das wir aus Österreich sattsam kennen: Wenn alle einen auf FPÖ machen, wählen die Umworbenen erst recht die FPÖ und nicht ihren Abklatsch.
Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl ist für die Hälfte der Bevölkerung eine gewaltige Enttäuschung. Schließlich schien der politische Umbruch erstmals seit 21 Jahren zum Greifen nah. Doch diese immerhin 25 Millionen Menschen können sich den „Luxus“ nicht leisten, ihre Freiheiten, ihre Grundrechte und den Willen, in einem Rechtsstaat zu leben, einfach aufzugeben – geht es doch um nicht weniger als ihr Leben. Was ist also in den nächsten Monaten und Jahren in der Türkei zu erwarten?
Gefährliche Kämpfe. Für die allermeisten oppositionellen Wähler:innen, die den erstarkenden Autoritarismus in der Türkei und das Ein-Mann-Regime ablehnen, geht der Kampf weiter. Es ist ein Kampf an vielen Fronten: gegen Femizide und für den Wiedereintritt des Landes in die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen; ein Kampf für Arbeitnehmer:innenrechte und gegen Arbeitsmorde auf Baustellen, in Fabriken und Bergwerken (von Arbeitsunfällen zu sprechen wäre angesichts der lebensgefährlichen Missachtung der Grundrechte von zehntausenden Arbeiter:innen purer Zynismus); ein Kampf gegen Rassismus gegen Kurd:innen sowie das wiederholte, jahrelange Einsperren von gewählten kurdischen Politiker:innen und für eine gleichberechtigte Staatsbürger:innenschaft.
Im Unterschied zu politischem Engagement in den allermeisten EU-Ländern sind das gefährliche Einsätze, bei denen immer die eigene Freiheit und körperliche Unversehrtheit riskiert wird. Etliche Oppositionspolitiker:innen inklusive der beiden ehemaligen Vorsitzenden der linksgerichteten kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sind seit sieben Jahren eingesperrt und werden trotz entsprechender Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht freigelassen. Mehrere zivilgesellschaftliche Aktivist:innen, die bei den Gezi-Protesten gegen die autoritäre und ultra-neoliberale Politik der AKP gewaltfrei demonstriert haben, sitzen ebenfalls seit Jahren hinter Gittern.
Solidarische Achsen. Selbst unter schwierigsten Bedingungen und Drohungen von Verhaftung und Verfolgung leisten Millionen Menschen im Land Widerstand gegen die Beschneidung ihrer Menschenrechte. Sie trauen sich, ihre Meinung z. B. auf Social Media kundzutun und dafür sehr viel zu riskieren. Und sie brauchen die Solidarität jeder demokratisch gesinnten Person – egal aus welchem Land. Denn der Druck auf Frauen, LGBTIQ-Personen, Kurd:innen und alle, die nicht mit dem Erdoğan-Regime einverstanden sind, wird nicht kleiner werden.
Die Haltung, die fast alle EU-Regierungschef:innen in den letzten Jahren gegenüber Erdoğan an den Tag gelegt haben, war hingegen bestimmt von der Sorge, der autokratische Präsident könnte mehr Geflüchtete in die EU durchlassen. Sich mit einem „EU-Türkei-Deal“ die angebliche Gunst Erdoğans in dieser Frage zu erkaufen, aber gleichzeitig bei jeder Gelegenheit von „europäischen Werten“ zu faseln, kann nur als verlogen bezeichnet werden. Auch diese Doppelzüngigkeit weiß Erdoğan bestens für seine politischen Ziele einzusetzen, wenn er die Verlogenheit des Westens anprangert und sich als Rächer des globalen Südens bzw. der islamischen Welt inszeniert.
Und in Österreich? Auch bei dieser Wahl hat die überdurchschnittlich hohe Unterstützung von über siebzig Prozent der in Österreich wahlberechtigten türkischen Staatsangehörigen die Öffentlichkeit überrascht, obwohl das ein wiederkehrendes Muster ist. Ein Ernstnehmen von in Österreich lebenden Türkeistämmigen würde bedeuten, ihre durchaus vielfältigen politischen Haltungen, also auch den Nationalismus und Rassismus von nicht wenigen, ernst zu nehmen: Dass sich viele über Rassismus und Ausgrenzung in Europa beschweren, dabei aber selbst Kurd:innen, Armenier:innen und andere „Minderheitenangehörige“ rassistisch diskriminieren und als Terrorist:innen abstempeln, muss skandalisiert werden. Das ist nicht schlagzeilentauglich, sondern Knochenarbeit. Der Lohn dafür sind oft Beschimpfungen auf Social Media als „Verräter:in“, „Nestbeschmutzer:in“ oder schlicht „Hure“. Inklusive der Androhung einer Festnahme beim nächsten Verwandtenbesuch in der Türkei bzw. gleich am Flughafen. Woher ich das so genau weiß? Aus jahrelanger eigener Erfahrung.
Wollen wir von der bloßen Empörung über die große Unterstützung einer Autokratie aus Österreich, Deutschland oder Belgien wegkommen, gibt es keine Alternative zur offenen Auseinandersetzung mit demokratie- und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, auch unter Türkeistämmigen.
Attraktiver Nationalismus. Es ist nicht bloß das Underdog-Sein im reichen Westen, das viele Menschen Erdoğan unterstützen lässt. Es gibt durchaus eine Nationalismusdividende, in deren Genuss zu kommen ihnen „das Jahrhundert der Türkei“ verspricht. Die Türkei als „Weltmacht“, in deren Licht auch sie höchstpersönlich sich sonnen und sich (mit) mächtig fühlen können. Diese Dividende verheißt, sich von Opfern von durchaus real erlebtem Rassismus in Täter:innen und Mächtige transformieren zu dürfen. Sie erleben dadurch eine persönliche Aufwertung, die sie nötig haben in einem Land, in dem ihre Geschichte als „Fehler“ bezeichnet wird (wie von Karl Nehammer, immerhin Bundeskanzler der Republik, als er über die Arbeitskräfteanwerbung in den 1960ern und ihre „Folgen“ spricht).
Und so wird auch deutlich, warum rechte Politiker:innen in Europa sich mit inszenierter Empörung über AKP-Wahlergebnisse begnügen, statt über unsere gemeinsame Demokratie zu diskutieren: Nationalismus ist auch in Österreich erfolgreich instrumentalisierbar. So wäscht eine Hand (von Erdoğan) die andere (von Nehammer) und beide Politiker können für ihre jeweiligen Parteien Emotionen mobilisieren.
Wir aber, die Bürger:innen, die an Demokratie glauben, müssen uns im wahrsten Sinn des Wortes zusammenstreiten. Auch wenn uns das keine Fotos in der Zeitung bringt wie für Nehammer, Kickl oder Erdoğan. •
Alev Korun ist Menschenrechtsaktivistin und ehemalige Nationalratsabgeordnete der Grünen.