„We feed the world“, so lautet der Mythos der Agrarindustrie. Wie durch dieses Argument eine zukunftsfähige Landwirtschaft verhindert wird, erklärt Julianna Fehlinger von Via Campesina. Interview: Lea Susemichel
an.schläge: Eine häufig vorgebrachte Kritik an Degrowth im Lebensmittel-Sektor lautet, dass der steigende Lebensmittelbedarf einer wachsenden Weltbevölkerung durch die Versorgung durch regionale KleinbäuerInnen nicht gedeckt sei. Was lässt sich dem entgegenhalten?
Julianna Fehlinger: Bäuerinnen und Bauern auf Klein- und Kleinstbetrieben bauen laut Weltagrarbericht den größten Teil aller weltweit produzierten Lebensmittel an. Dieser Bericht wurde von der Weltbank und den UN in Auftrag gegeben und international renommierten WissenschaftlerInnen erstellt. 85 Prozent der Bauern und Bäuerinnen weltweit bewirtschaften weniger als zwei Hektar Land, bauen aber den größten Teil aller weltweit produzierten Lebensmittel an. Dabei soll gar nicht bestritten werden, dass die Produktivität der Landwirtschaft in vielen Regionen gesteigert werden müsste. Doch dazu brauchen Kleinbäuerinnen und -bauern Zugang zu Märkten, Transport- und Lagermöglichkeiten, zu Wasser, Krediten und Saatgut, und vor allem auch Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung, die nicht vom Wachstumsdogma getrieben ist. Mit relativ geringem Aufwand, dem Einsatz von agrarökologischen Methoden und dem Zugang zu geeignetem, regional angepasstem Saatgut könnten enorme Produktivitätszuwächse erreicht werden.
Zu behaupten, dass die wachsende Weltbevölkerung eine Industrialisierung der Landwirtschaft braucht, ist eine bewusste Strategie, um diese landwirtschaftliche Praxis durchzusetzen. Es ist der Mythos der Agarindustrie zu behaupten:„We feed the world“.
Derzeit ist viel von der „Farm to Fork“-Strategie die Rede. Was ist das?
Die „Farm to Fork“-Strategie zeigt den von der EU-Kommission gewünschten Entwicklungspfad der Landwirtschaft auf. Mit dieser Strategie weicht sie aber nicht vom Leitgedanken ökonomischen Wachstums in der Landwirtschaft ab. Dennoch ist die Strategie bemerkenswert, weil einige Ziele festgeschrieben sind, für deren Umsetzung eine Kehrtwende in der Handels- und Agrarpolitik notwendig ist. Zum Beispiel werden bis 2030 eine Reduktion der Pestizide um fünfzig Prozent, eine Reduktion von Düngemittel um zwanzig Prozent und ein Anheben des Bio-Anteils EU-weit auf 25 Prozent als Ziele definiert. Umgesetzt werden soll das innerhalb der bestehenden Gesetze und mithilfe von Subventionen. Die Kommission will damit die EU in Sachen Klima- und Umweltschutz weiterentwickeln. Gerade Österreich scheint aber gegen diese Ambitionen zu arbeiten. Landwirtschaftsministerin Köstinger schiebt als Argument vor, eine Reduktion von Pestiziden könnte die europäische Produktion gefährden. Diese Blockadehaltung einer österreichischen Ministerin legt offen, wie sehr sie die Interessen der Agrarindustrie verteidigt. In Österreich haben wir bereits einen Bio-Anteil von fast 25 Prozent und könnten von einer Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und Düngemittel massiv profitieren.
Was sind – global gesehen – die wichtigsten politischen Forderungen, um Ernährungssouveränität zu erreichen?
Das globale Agrar- und Ernährungssystem ist heute von Konzerninteressen dominiert und auf Profite ausgerichtet. Es erzeugt riesige soziale Ungerechtigkeit, Hunger, Mangelernährung und zerstört unseren Planeten.
Das Konzept der Ernährungssouveränität wurde 1996 beim Welternährungsgipfel der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations, Anm.) von La Via Campesina vorgestellt. Ernährungssouveränität bedeutet eine umfassende Demokratisierung, sodass Bauern und Bäuerinnen mitbestimmen können, was sie anbauen und Konsumierende gesundes und lokal angepasstes Essen zu Verfügung haben. Um das zu erreichen, müssen die neoliberalen Handelsabkommen völlig umgestaltet werden und endlich nicht mehr hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Für Europa liegt ein zentraler Schlüssel in einer sozialen, gerechten und agrarökologischen Ausrichtung der EU-Agrarpolitik. Davon sind wir aber leider weit entfernt.
Eine weitere Kritik lautet, dass nachhaltig produzierte und biologisch angebaute Nahrungsmittel für viele Menschen nicht leistbar seien. Zugleich werden billige, industriell verarbeitete Lebensmittel für sich rasant ausbreitende Krankheiten wie Diabetes verantwortlich gemacht.
Ich denke die Kritik, Bio ist nur für jene da, die es sich leisten können, ist richtig und ein zentraler Schlüssel, der von vielen Seiten immer negiert wird. Die Landwirtschaft steckt hier in einer gesellschaftlichen Zwickmühle: Die Preise sind so niedrig, dass in der EU kein Betrieb ohne Subventionen leben kann. Besonders Milch und Fleisch werden unter den Kosten produziert. Gleichzeitig verdienen viele Menschen so wenig, dass sie sich höhere Lebensmittelpreise nicht leisten können. Auch für die Löhne in der Lebensmittelbranche trifft das zu. Gleichzeitig haben und hatten wir ein enormes Wirtschaftswachstum, das aber nur Wenigen enormen Reichtum gebracht hat. Durch die niedrigen Preise machen wir mit Agrarpolitik eigentlich Sozialpolitik und stabilisieren damit die globalen Ungleichverhältnisse. Doch das geht auf Kosten von Menschen, Tieren und Boden. Jene, die es sich leisten können, kaufen sich aus diesem Dilemma frei. Besonders die zuliefernde Industrie (Düngemittel, Pestizide) als auch die Verarbeiter und der Einzelhandel haben es geschafft, so große Marktmacht aufzubauen, dass sie trotz der niedrigen Preise enorme Gewinne erzielen können.
Von Umweltaktivist_innen wird die Einpreisung der wahren Kosten gefordert. Wie sähe das konkret aus?
Kostenwahrheit ist gerade in der Klimabewegung eine zentrale Forderung. Doch hier muss man sehr aufpassen, in welche Richtung sich das politisch entwickelt. In der sogenannten Climate Smart Agriculture wird folgende Logik durchgesetzt: Wenn auf einer landwirtschaftlichen Fläche die Produktivität erhöht wird – durch den Einsatz von Pestiziden, Chemiedünger oder Gentechnik –, muss die landwirtschaftliche Fläche nicht ausgeweitet werden und Wald kann als Senke für Treibhausgase erhalten bleiben. Und wenn berechnet wird, wie viel Treibhausgase eingespart werden, kann der Emissionshandel diesen Aufwand finanziell honorieren. Leider bewirkt dies oftmals Land Grabbing oder erhöht den Druck auf die Ressource Boden noch weiter.
Via Campesina hat sich daher hier klar positioniert: Der Kohlenstoff in unseren Bauernhöfen ist nicht käuflich!
Viel sinnvoller ist es, Bewirtschaftungsmethoden zu fördern, von denen wir wissen, dass sie gut für das Klima und die Artenvielfalt sind und in den internationalen Handelsabkommen Produktionsstandards wie bäuerliche Qualitäten, hohe arbeitsrechtliche Standards und Umweltstandards einzuführen.
Wie sehen Lösungsstrategien aus, um soziale, gesundheitspolitische und ökologische Frage zu verbinden? Welche Rolle spielt der Fleischkonsum?
Einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden, ist eine große Herausforderung. Leider fehlt aber auch der politische Wille in Richtung Ernährungssouveränität zu arbeiten. Einige tolle Beispiele zeigen, dass es möglich ist, soziale, gesundheitliche und ökologische Fragen zu verbinden.
Etwa ein Projekt aus Kopenhagen, das die öffentliche Beschaffung (zB Großküchen für Schulen oder Heime) so transformiert hat, dass sie neunzig Prozent der Lebensmittel aus biologischer Landwirtschaft kaufen mit dem gleichen Budget wie davor.
Ich sage hier bewusst „transformiert“, denn in den Küchen wurde einerseits viel weniger Fleisch verkocht, was auch den Gesundheitsempfehlungen entspricht. Doch die Küchenteams haben auch lernen müssen, ganz anders zu kochen: viel mehr frische Produkte verarbeiten, anstatt Halbfertigprodukte zu verkochen. Das hat auch zu einem Anstieg von Obst- und Gemüseproduzierenden rund um Kopenhagen geführt.
Fleisch und Milchprodukte werden weiterhin angeboten, aber eben in besserer Qualität und in kleineren Portionen.
Julianna Fehlinger ist Sozial Ökologin und arbeitet als Geschäftsleiterin der ÖBV- Via Campesina Austria. Sie hat selbst drei Jahre einen Bio-Betrieb in Oberösterreich geleitet und ist Teil der Initiative MILA – Mitmach Supermarkt, der in Wien entsteht.