„Becoming Charlie“ ist eine kurzweilige und sensible Mini-Serie, in der eine queere Hauptfigur jenseits non-binärer Konventionen zu sich selbst findet. Von Maxi Braun
Gerade eben ist Charlie (Lea Drinda) ausgelassen und zu lauter Mucke euphorisch durch die Wohnung getanzt, da wird es plötzlich still und stockdunkel. In der Schublade findet sie daraufhin die unbezahlten Stromrechnungen der letzten vier Monate, die ihre Mutter vor ihr versteckt hat. Schon sind wir mittendrin in Charlies Alltag und Hood, Offenbach bei Frankfurt. Was im Osten Platte heißen würde, reckt sich hier als trotzig-grauer Sozialwohnbau in den trüben Himmel. Charlie ist zwanzig Jahre alt, lebt noch bei ihrer Mutter, die zwischen Depressionen und manischen Episoden im Kaufrausch hin und her driftet. Sie selbst rackert sich in einem ausbeuterischen Job bei einem Lieferdienst ab und ist in ihre beste Freundin Alina verliebt, die ein Kind von Macho Enzo aus dem Block erwartet. Charlies größtes Problem ist aber eines, für das ihr buchstäblich die Worte fehlen.
Die ZDF-Instant-Dramaserie „Becoming Charlie“ rückt eine non-binäre Hauptfigur in den Fokus und erzählt die Coming-of-Gender-Geschichte in nur sechs rund viertelstündigen Episoden. Vom Buch und der Regie bis hin zum Cast sind hier Menschen am Werk, die wissen, wovon sie reden. Besonders dem einfühlsamen Drehbuch von Lion H. Lau ist es dabei zu verdanken, dass die stark verdichtete Erzählung funktioniert. Lau ist selbst non-binär und schafft es, mit Charlie einen nachvollziehbaren Charakter zu erschaffen, der jenseits urbaner und akademischer Bubbles, in denen queere Geschichten meist situiert sind, überzeugt. Hauptdarstellerin Lea Drinda, die schon in der Amazon-Prime-Serienadaption von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ als Babsi begeisterte, ist auch hier perfekt besetzt. Sie trägt jede einzelne Szene. Ob verpeilt, verzweifelt, wütend oder glücklich, ihre Energie katapultiert Charlie wie eine Flipperkugel von einem Missgeschick zum nächsten Glücksmoment und macht es uns leicht, ihr auf diesem emotionalen Zick-Zack-Kurs zu folgen. Auch Katja Bürkle als Charlies lesbische Tante Fabia verkörpert beeindruckend all die Härte einer Frau, die sich trotz mieser Voraussetzungen aus der Scheiße gekämpft hat und sich dabei buchstäblich den Buckel krumm schuftet.
Neben der Besetzung bewahrt auch die Inszenierung der beiden Regisseurinnen Kerstin Polte und Greta Brekelmann die Serie davor, weder in Sozialkitsch abzudriften, noch mit dem für die öffentlichen-rechtlichen Sender typisch-pädagogischen Zeigefinger zu wedeln. Insbesondere Kerstin Polte (Episode 1 bis 3), die schon mit „Von Seepferdchen und Schränken“ Rapperin und Aktivistin Sookee porträtierte und mit ihrem Spielfilmdebüt „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ gutes Gespür für Komödien und eine Prise magischen Realismus bewies, kreiert filmsprachlich verspielte wie auch kinoreife Momente. Bildgestalter*innen Lotta Kilian und Philip Jestädt gelingt es außerdem, dass keine der sechs Episoden nach schnödem Fernsehen aussieht.
Ein bisschen konstruiert wirkt stellenweise die narrative Konstellation. Wenn sich Charlies Kumpel Nico (Danilo Kamperidis), ein Automechaniker, der sie mit zum Pumpen ins Fitness-Studio nimmt, als schwul herausstellt oder Nachbarin und Psychologie-Studentin Ronja mit nur einem Blick auf Charlie wissend fragt: „Mit welchem Pronomen möchtest Du angesprochen werden?“, wirkt das wie aus dem Lehrbuch für Diversität. Andererseits könnte das auch daran liegen, dass lesbische, queere, schwule und PoC-Charaktere als autonome Figuren noch immer viel zu selten und zu wenig selbstverständlich im deutschsprachigen Fernsehen vorkommen. „Becoming Charlie“ ist ein Versuch, das zu ändern. Mit der unterhaltsamen, visuell ansprechenden Erzählweise und dem empathischen Zugang gelingt es, ein breites Publikum zu adressieren, das vorher noch keine Berührungspunkte mit der Thematik hatte. Gleichzeitig zeigt die Serie auf unterhaltsame und verständliche Art auf, wie schwer es diese verdammte Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität nicht nur denen, die davon abweichen, sondern uns allen macht. •