Hanna Perekhoda, Historikerin und Politikwissenschaftlerin an der Universität Lausanne, stammt aus Donezk, einer Stadt im Donbass in der Ostukraine. Laura Helene May hat mit ihr über die geopolitische Zeitenwende und feministische Solidarität mit der Ukraine gesprochen.
an.schläge: Wir alle konnten den diplomatischen Eklat zwischen Wolodymyr Selensky und Donald Trump in Echtzeit verfolgen. Markiert das Ereignis den Beginn einer neuen Weltordnung?
Hanna Perekhoda: Das Treffen ist Ausdruck einer großen geopolitischen Verschiebung, die wir noch nicht ganz begreifen können. Die Vereinigten Staaten entfernen sich von ihrer traditionellen Rolle des Hegemons, der seine Dominanz durch Demokratie rechtfertigt. Sie geben die Politik des indirekten Imperialismus auf und kehren zu einem territorialen Annexions-Imperialismus zurück, wie wir ihn aus dem 19. Jahrhundert kennen. Bei der jüngsten UNO-Generalversammlung haben die USA mit Russland, Weißrussland, Israel und Nordkorea gegen eine Resolution zum Ukraine-Krieg gestimmt. Könnte es eindeutiger sein?
Trump nähert sich Despoten an.
Die Entwicklung sollte nicht nur auf Trumps Charakter oder seine wirtschaftlichen Interessen zurückgeführt werden – das ist eine geopolitische Strategie, die JD Vance und Marco Rubio in Interviews der letzten Monate bereits angekündigt haben. Sie verfolgen die Theorie des Realismus in internationalen Beziehungen. Höchstes Ziel sind die eigenen Interessen, „America first“. Das ist keine Überraschung. China ist in ihren Augen der strategische Feind, also muss Russland weg von China und hin zu den USA bewegt werden. Fressen oder gefressen werden. Die Annexion der Krim 2014 wurde noch als Anomalie aufgefasst, doch es handelt sich um eine geopolitische Strategie, die die Souveränität von Nationalstaaten abseits imperialer Mächte infrage stellt.
Internationale Diplomatie, Vereinte Nationen, regelbasierte Weltordnung – alles Geschichte?
Es war nie eine regelbasierte Ordnung, weil sie immer von der Hegemonie einer einzigen Macht abhängig war. Jetzt zieht sich diese Macht einfach zurück und gibt ihre Rolle der Stabilisierung auf.
Wie wird die Macht in der neuen Welt verteilt?
Die Hauptakteure sind Russland, China und die Vereinigten Staaten. Alle drei wollen Gesellschaften durchsetzen, in denen die Möglichkeit menschlicher Freiheit nicht existiert. Aus ihrer Sicht sind demokratische Staaten von Natur aus unfähig, äußeren Bedrohungen zu widerstehen, weil sie intern gespalten sind und ihnen ein einheitlicher politischer Wille fehlt.
Europa rüstet auf – Feministinnen haben jahrzehntelang für Frieden und Abrüstung gekämpft. Widersprechen Waffenlieferungen linkem Pazifismus und feministischer Außenpolitik?
Es gibt eine simple Wahrheit, die alle Feminist*innen einsehen: Wenn man Missbrauch beobachtet und dem Opfer keine Unterstützung bietet, hilft das dem Angreifer. Tatenlosigkeit gegenüber Aggression ist keine Neutralität – es ist Kompliz*innenschaft. Pazifistische Parolen sind zwar emotional überzeugend, aber sie funktionieren nur, bis ein Killer zu Ihnen nach Hause kommt. Wenn Sie unter dem Nato-Schutzschild leben, können Sie Fragen von Leben und Tod auslagern oder ignorieren. Aber wenn Sie ein Messer an der Kehle haben, können Sie nur sterben oder kämpfen. Die Sicherung des Friedens erfordert mehr als moralisches Getue. Es gibt ein Manifest ukrainischer Feministinnen zu diesem Thema mit dem Titel: „Recht auf Widerstand“. Sie wollen keinen Frieden um jeden Preis. Russische Besatzung ist kein Frieden, in einem faschistischen Regime gibt es keinen Feminismus.
Muss Europas Linke eine neue Haltung gegenüber Waffenindustrie und Sicherheitspolitik finden?
Wenn linke Parteien als gesellschaftliche Kraft relevant bleiben wollen, müssen sie eine klare Haltung zur Verteidigungsstrategie entwickeln. Sonst sind sie nur ein Club aus realitätsfernen Leuten, die ihre Anti-Mainstream-Identität behaupten. Russland hat den größten europäischen Staat überfallen und finanziert offen rechtsextreme und faschistische Kräfte weltweit. Ebenso die USA. Man kann das Sicherheitsproblem weiterhin gänzlich leugnen, aber dann werden Konservative die Diskussion dominieren und die Linke als realitätsfremd darstellen – und sie hätten nicht Unrecht. Verteidigungspolitik muss nicht rechtsgerichtet sein. Sie sollte nicht durch Kürzungen bei Renten oder im Gesundheitswesen finanziert werden. Sie kann durch Steuergerechtigkeit, ein hartes Vorgehen gegen Offshore-Steueroasen und die Stärkung der Energie- und Cybersicherheit gewährleistet werden.
Ist Pazifismus ein Privileg?
In meiner idealen Welt gibt es auch keine Rifles und Raketen. Doch rechtsextreme Kräfte rüsten auf und drohen offen mit der Zerstörung demokratischer Gesellschaften.
Wer soll Europas Verteidigung und Hilfe für die Ukraine zahlen?
Es gibt drei Möglichkeiten: Erstens Geld für nationale Sozialsysteme kürzen – das ist gefährlich und falsch. Soziale Unsicherheit stärkt antidemokratische Populisten und Faschisten. Zweitens könnten Steuern für Superreiche und Konzerne erhöht werden. Dafür bedarf es jedoch einer Koordination, um Kapitalflucht zu verhindern. Trumps Ankündigung goldener Visa für Superreiche bedeutet, dass er sich bereits auf ein solches Szenario vorbereitet. Es gibt aber eine dritte Lösung. Rund 300 Milliarden Euro russische Vermögenswerte wurden eingefroren. Diese könnte man konfiszieren und zur Finanzierung der Verteidigung der Ukraine und auch der europäischen Sicherheit verwenden. Russland würde so tatsächlich für das Verbrechen der Aggression und die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen und die Last der Verteidigung würde nicht allein den europäischen Bürgern auferlegt.
Warum gehen die europäischen Behörden diesen Schritt nicht?
Sie befürchten, einen Präzedenzfall zu schaffen. Wenn sie anerkennen, dass es einen Platz für Moral und Ethik in der Wirtschaft und in der Politik gibt, bringen sie das ganze System in Schwierigkeiten.
Ausgerechnet Europa soll Imperialismus und Kapitalismus infrage stellen? Viele sehen den Ukraine-Krieg auch als Folge der europäischen Expansionspläne in Form der Nato-Osterweiterung.
Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest Feminist*innen nach Selenskys Treffen mit Trump diesen klassischen Fall des Victim-Blamings erkennen.
Die Annäherung der Ukraine an Europa dient als Rechtfertigung für Gewalt wie der kurze Rock bei einer Vergewaltigung? Nur dass die Ukraine nicht einmal einen kurzen Rock anhatte. Die Leute analysieren nie die empirischen Daten über das tatsächliche Machtgleichgewicht zwischen Russland und der Nato. Osteuropäische Länder traten dem Bündnis nach Ende der Sowjetunion bei, weil Russland ihnen mit Invasion drohte. Insbesondere den baltischen Staaten. Doch die Nato ist nur flächenmäßig auf der Karte größer geworden, die Truppenstärke der Nato nimmt seit dreißig Jahren ab.
Russland hat sich nie von der Nato bedroht gefühlt?
Putins Regime war von Anfang an sehr deutlich. Sie fühlen sich nicht militärisch von der Nato bedroht, sondern vom westlichen „Gesellschaftsprojekt“. Putin ist davon überzeugt, dass die liberalen Eliten des Westens Russland von innen heraus zerstören wollen, indem sie die „Ideologien“ der Menschenrechte, des Feminismus und der „Schwulenfreundlichkeit“ fördern. Er betrachtet die Welt durch diese Brille und ist ehrlich davon überzeugt, dass jede Revolution und Emanzipationsbewegung auf der Welt im Grunde eine westliche Verschwörung gegen Russland ist.
Die Ukraine kämpft seit drei Jahren gegen den russischen Angriff. Wie wirkt sich der Krieg auf die Geschlechterverhältnisse im Land aus?
Der Krieg verhärtet Geschlechterungleichheiten auf mehreren Ebenen. Der Großteil der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder in finanziell prekären Situationen. Menschenhandel ist ein großes Problem. Frauen, die in der Ukraine geblieben sind, tragen dort das ganze Gewicht sozialer Reproduktion. Während Männer großteils an der Front kämpfen, halten Frauen die Gesellschaft mit ihrer Care-Arbeit am Laufen. Selbst die Armee ist von Frauen abhängig, die sich um die Versorgung, aber auch um Nachschub von Geld und Equipment kümmern.
Frauen spielen also eine wichtige Rolle im ukrainischen Widerstand?
Nicht nur im häuslichen Rahmen, sondern auch an der Front. Inzwischen sind rund 15 Prozent der ukrainischen Kämpfer*innen weiblich.
Im Gegensatz zu Männern kämpfen Frauen in der Ukraine freiwillig. Auch in Deutschland wird aktuell über die Wiedereinführung der Wehrpflicht auch für Frauen beraten.
Es gibt ein wachsendes Rekrutierungsproblem. Die Ukraine ist eine normale, individualistische, postmoderne und schnell alternde europäische Gesellschaft. Dies wirft schwerwiegende ethische Fragen auf, insbesondere die Spannung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Manche Männer fragen sich, warum nur sie dieses Opfer bringen sollen. Was bedeutet es, Teil einer Gesellschaft zu sein, die sich selbst verteidigt? Sollten auch Frauen in Kriegszeiten eingezogen werden? Es gibt keine einfachen Antworten; die Ukrainer*innen stehen täglich vor diesen Dilemmata.
Gleichberechtigung in Kriegszeiten ist auch mit Blick auf die Reproduktion ein großes Thema.
Besonders in Russland wird antifeministische und transfeindliche Politik genutzt, um nationalistische Gefühle zu schüren. Krieg ist einer der offensichtlichsten Gründe, warum Länder wie Russland sich auf die Einschränkung reproduktiver und sexueller Freiheiten stürzen. Länder im Krieg brauchen Soldaten, und Soldaten wachsen nicht auf Bäumen, sie werden nicht in Fabriken hergestellt. Dafür braucht man Frauen. Feminismus und LGBTQ-Bewegungen sind aus dieser Perspektive eine direkte Bedrohung nationaler Souveränität. In der Ukraine treibt das offizielle Bekenntnis des Staates, „europäisch“ zu werden, sowohl Regierung als auch Gesellschaft zu einer stärkeren Akzeptanz von Feminismus und LGBTQ-Identitäten. Die Kriegsdynamik verstärkt jedoch auch einen Gegentrend zum Kriegstraditionalismus mit seinen starren Geschlechterrollen. Tatsächlich verdeutlicht die Erfahrung der Ukraine die Spannungen und Widersprüche, mit denen jede postnationale, postmoderne westliche Gesellschaft im Falle einer militärischen Aggression konfrontiert wäre.
Hanna Perekhoda ist aktiv im „European Network for Solidarity with Ukraine“ und bei Sozialnyj Ruch, einer sozialistischen ukrainischen Arbeiter*innen-Organisation.
Laura Helene May hat Politikwissenschaft, Medienwissenschaft und Zeitgeschichte studiert. Sie lebt als freie Journalistin in Buenos Aires und berichtet über Protest, Feminismus, Ressourcen, Ideologie und Geopolitik.