Wir haben alle die Pflicht, die Welt zu retten, sagt Clara Porák
„Es ist schon frech, dass sie einfach bauen“, sagt Luise* und lacht ein bisschen nervös. Sie sitzt neben mir auf der Baustelle der Stadtstraße in Wien.
Heute werden wir das erste Mal gemeinsam unter den Baggern übernachten, denn diese und vier weitere Baustellen wurden von Aktivisti:nnen besetzt, um gegen den Bau einer Straße mitten in der Klimakrise zu protestieren. Straßen bringen noch mehr motorisierten Verkehr. Wir wissen: Das können wir uns nicht leisten. Deshalb hängt über den Baggern jetzt unser Banner.
„Wann sind wir nur solche Rebellinnen geworden?“, frage ich, während wir nebeneinander auf unseren Isomatten liegen. „Ich komme mir gar nicht rebellisch vor, sagt Luise. „Weil ich so sicher weiß, dass wir Recht haben.“
Ich nicke. Wir wissen, dass wir recht haben. Daher kommt meine Wut. Wut ist aber nicht das richtige Wort. Nicht mehr. Wütend war ich mit 17, als ich begonnen habe, mich für Klimaschutz zu engagieren. Jetzt bin ich 23 und mir relativ sicher, wahnsinnig zu sein. Ich bin bereit auf einer besetzten Baustelle zu übernachten, mich auf einer Straße anzuketten und im Polizeirevier darauf zu warten, dass man mich wieder gehen lässt. Ich weigere mich, zu akzeptieren, dass meine Zukunft eine Katastrophe sein soll.
Ich sehe keine Zukunft der Autobahnen. Keine, in der Konzerne sich gegen die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Ich sehe eine helle, eine große Zukunft. Eine Welt, in der wir Bäume pflanzen, statt Straßen zu bauen. In der wir wissen, dass es keine Ausbeutung gibt. In der wir vielleicht nicht alles haben, das wir uns wünschen könnten, aber alles, das wir brauchen. In der wir vergessen haben, dass es Grenzen gibt. In der Gewalt eine Randerscheinung ist und nicht die Regel. Eine Welt, in der ich sicher bin. In der alle Menschen sicher sind. Ich sehe sie so deutlich vor mir, dass es wehtut, wenn ich aus dem Fenster sehe.
Ich sehe, wie anders meine Stadt sein könnte. Ich sehe schmale Straßen, gemacht für das Leben. Mit hohen Bäumen und wenigen Autos, mit Fahrrädern und Kreidezeichnungen, mit Bänken und Platz für Feste. Ich sehe Wohnungen, die so gebaut sind, dass sie uns einladen zu teilen, was wir haben. Unsere Werkzeuge und unsere Möbel, unser Essen und unsere Zeit. Ich sehe Pflanzen an jeder Ecke, Tiere, die wir als Teil unserer Gemeinschaft betrachten. Politik, die von uns gemacht wird, mit uns, für uns. Ich sehe eine Gemeinschaft, in der alle die gleichen Rechte haben. Menschen, die gemeinsam kochen und Gemüse anbauen, Feste feiern und abends, wenn die Sonne untergeht, Gitarre spielen. Die Zeit haben und Platz haben und Mut haben.
Ich sehe mich barfuß an einem Hochbeet stehen. Ich sehe, wie ich meinen Kindern nachwinke, wie sie auf einen Baum klettern, barfuß durch die Straßen jagen. Ich sehe, wie sie Drachen steigen lassen und abends ein Lagerfeuer mit dem ganzen Wohnblock machen. Ich sehe uns so leicht und so glücklich, so sicher und frei.
Das ist vermutlich nicht für jeden die Utopie. Die eine Utopie kann es auch nicht geben, sondern nur jede Menge davon. Wir müssen die finden, die für uns Sinn macht, und daran arbeiten, dass sie zu unserer Wirklichkeit wird.
In einer Zukunft, in der wir das Schlimmste der Klimakrise abwenden, gibt es noch immer Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt. Die Welt wird wohl nie so sein, wie ich sie mir wünsche. Aber wir werden dann die Gelegenheit haben, für Veränderungen einzustehen. Ich finde, das ist eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Ich wache auf der Baustelle auf. Ich habe kurz geschlafen, aber ich habe das Gefühl, sehr viel Kraft zu haben. Ich packe meinen Schlafsack ein, die Sonne geht gerade auf. Ich weiß, dass ich nur ein Mensch bin. Ich allein werde die Welt nicht verändern. Aber ich glaube, ich habe ein Recht, ja sogar eine Pflicht, es zu versuchen. Und ich möchte es versuchen. •
Clara Porák ist freie Journalistin und Klimaaktivistin in Wien. Sie ist Teil der inklusiven Redaktion andererseits und Mitbegründerin des Netzwerkes Klimajournalismus.