Immer mehr Menschen leben versteckt in Armut und ohne eigenes Zuhause. Für Frauen bedeutet das oft Gewalt und Abhängigkeit. Von VANESSA SPANBAUER
„Mit neun war ich das erste Mal zwei Wochen auf der Straße“, sagt die Frau, die vor mir sitzt. Sie wirkt gelassen, denn über ihre Geschichte spricht sie im Rahmen der „Supertramps“ oft. Supertramps ist ein Projekt, das wohnungslosen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Geschichte zu teilen. Bei den Touren bieten obdachlose Stadtexpert_innen wichtige Einblicke in ein Leben, mit dem die Teilnehmenden sonst selten konfrontiert werden. Sandra lebte viele Jahre im Heim, bis ihre Mutter sie wieder zu sich holte. Mit 17 Jahren führte sie das Leben wieder zurück auf die Straße. Da das Leben als wohnungslose Frau alles andere als ungefährlich ist, schloss sie sich einer Gruppe an. „Wir haben uns immer gegenseitig unterstützt. Ich habe auf die Sachen aufgepasst, während die anderen schnorren gegangen sind. Man teilt alles und Lehrlingsgeld hatte ich zusätzlich auch.“ Durch die Lehre konnte Sandra wieder Fuß fassen, fand schließlich auch eine eigene Wohnung. Sie erinnert sich: „Von 18 bis 44 habe ich ganz normal gelebt. Ich war arbeiten, verheiratet, habe Kinder aufgezogen und wollte ihnen alles bieten.“
Plötzlich ohne Wohnung. Viele Faktoren können zusammenspielen, wenn Menschen plötzlich mit Wohnungslosigkeit konfrontiert sind. Arbeitslosigkeit oder eine Scheidung, Schicksalsschläge und schwere Krankheiten. Geschichten, die gar nicht so selten sind. Die, die schon einmal auf der Straße gelebt haben, tun meist alles, um das nicht erneut erleben zu müssen – so auch Sandra.
„Wohnungslosigkeit ist wirklich ein einschneidendes Erlebnis. Wenn man so tief unten war, ist es auch bestärkend, wieder rauszukommen“, sagt Inge Honisch, Schuldnerberaterin und Sozialarbeiterin bei der Schuldnerberatung Salzburg im an.schläge-Gespräch. In Salzburg wurde zuletzt von einem Anstieg von fünf Prozent bei wohnungslosen Frauen berichtet. Insgesamt 1539 Menschen sind in Salzburg wohnungslos, 352 davon obdachlos. Der Anteil der Frauen liegt bei 35 Prozent. Im österreichischen Vergleich liegt Salzburg bei den Wohnungspreisen im Spitzenfeld. „In Salzburg sind die Wohnungen sehr teuer. Ein Drittel der Anfragen in Frauenhäusern kommt von wohnungslosen Frauen, die nicht von Gewalt betroff en sind. Doch Gewalt ist die Voraussetzung zur Aufnahme im Frauenhaus. Das zeigt, wie groß das Problem mit leistbarem Wohnraum mittlerweile ist“, erzählt Inge Honisch.
Alles, nur nicht die Straße. Österreichweit waren laut Statistik Austria 2017 rund 15.000 Personen als wohnungslos registriert, rund ein Drittel davon sind Frauen. Doch diese sind sehr oft versteckt wohnungslos – Wohnungslosigkeit bei Frauen ist weniger sichtbar als bei Männern. Auf der Straße sind Frauen häufig Gewalt ausgesetzt, doch auch die Notschlafstellen und Tageszentren sind durch die deutliche Überzahl der Männer für viele zu unsicher oder gar bedrohlich. Wohnungslose Frauen oder Frauen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, tun deshalb viel, um ein Leben auf der Straße zu verhindern. Vor die Wahl gestellt, ohne ein Zuhause dazustehen oder in einer gewaltvollen Beziehung zu bleiben, entscheiden sich viele für Letzteres. Aber auch neue Beziehungen werden mit dem Ziel eingegangen, eine dauerhafte Bleibe zu haben. Besonders bei Müttern ist die Angst vor dem Jugendamt, das die Kinder wegnehmen könnte, ein relevanter Faktor, weshalb das Leben auf der Straße unter allen Umständen verhindert werden muss.
Schamvolles Verschweigen. Als Sandra erneut wohnungslos wurde, erzählte sie ihrem Umfeld nichts davon, selbst vor Freund_innen und ihrer Familie verheimlichte sie ihre prekäre Situation. Nach dem Tod ihrer schwerkranken Mutter war Sandra in ein tiefes Loch gefallen. Bis zuletzt hatte sie diese gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter gepfl egt. Sandras ehemaliger Partner, mit dem sie zusammenziehen wollte, nahm ihr Geld für eine gemeinsame Wohnung – und behielt es nach der Trennung. „Ich hatte keine Aufgabe mehr und bin monatelang nicht mehr aus der Wohnung rausgekommen. Wozu sollte ich noch aufstehen?“, erinnert sich Sandra zurück. Auch die eigene Krankengeschichte machte es unmöglich, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Das Vernachlässigen des Alltags und der Post führten schließlich zum Wohnungsverlust.
Doch niemand sollte mitbekommen, was der wortgewandten Frau widerfahren war. „Offiziell habe ich gesagt, dass ich in einer WG wohne. Ich habe mich geniert und wollte niemandem sagen, was passiert ist. So haben Freund_innen und Familie vier Jahre lang geglaubt, ich habe einen Wohnort.“ Ein paar Tage in Niederösterreich im Haus eines Freundes, ein paar Tage bei der Schwester in Wien, die nächsten bei der Tochter, dann bei Freund_innen – Sandra entwickelte ein gut gesponnenes Netz an Lügen, um immer wieder für ein paar Tage eine Unterkunft zu haben. Vier Jahre ging das gut, dann war keine Kraft mehr vorhanden und Sandra meldete sich bei der Wohnungslosenhilfe. Mit dem Hund im Schlepptau, der für sie über diese Jahre hinweg ein wichtiger sozialer Kontakt geblieben war, gestand sie sich die Situation endlich ein und konfrontierte ihre Familie mit der Wahrheit. „Meine Tochter war sehr wütend und verletzt, weil ich nichts gesagt hatte. Aber ich hatte sie damit einfach nicht belasten wollen.“
Enteignung. Sandra konnte ihre Wohnungslosigkeit jahrelang verbergen, sie war immer gestylt, nie schmutzig und es gelang ihr gut, den Schein aufrechtzuerhalten. „Man will das Frauenbild in der Öffentlichkeit wahren“, sagt sie. In anderen Ländern ist Wohnungslosigkeit deutlicher sichtbar. Dies deckt sich mit den Erfahrungen von Inge Honisch. „Natürlich gibt es in Österreich Armut, aber durch viele Stellen, an die man sich wenden kann, verhungert bei uns niemand.“
Obdachlosigkeit ist aber ein wachsendes Problem westlicher Demokratien, die von großen Klassenunterschieden geprägt sind. So auch in den USA. Allein in Los Angeles ist die Obdachlosenzahl seit 2012 um 47 Prozent gestiegen. Und auch in Deutschland ist die Entwicklung besorgniserregend, in Städten wie Hamburg, Stuttgart oder München sind leistbare Mietwohnungen Mangelware. Grund genug, endlich über das Schaffen von billigerem Wohnraum nachzudenken. Berlins Oberbürgermeister Michael Müller von der SPD sprach Anfang des Jahres darüber, 65.000 Wohnungen des privaten Immobilienunternehmens Deutsche Wohnen zurückkaufen zu wollen. Eine Berliner Initiative will die großen Immobilienunternehmen nun sogar enteignen. Sie hat nicht nur eine erfolgreiche Großdemonstration gegen „Verdrängung und Mietenwahnsinn“ organisiert, zu der ein großes Bündnis aufgerufen hatte, sondern auch ein Volksbegehren gestartet. Die Resonanz in der Bevölkerung und das Medienecho zeigen, wie dringlich das Thema Wohnpolitik ist.
Es kann jede treffen. „Wenn sie keinen Job haben, kriegen sie keine Wohnung. Wenn sie keine Wohnung haben, kriegen sie keinen Job, und wenn sie kein Konto haben, gilt dasselbe. Eines greift ins andere. Wenn es so weit ist, ist es ganz schwer, ohne professionelle Hilfe wieder rauszukommen“, so Honisch, die viele Menschen mit Mietrückständen berät. Es gibt Hilfen wie Schuldnerberatungen oder Notschlafstellen und Tageszentren. Doch Betroffene hindert oft die Scham, den Alltag nicht alleine bewältigen zu können, daran, über ihre Probleme zu sprechen und Hilfe zu suchen. Eine öffentliche Aufklärung sei umso wichtiger.
So unvorstellbar es auch für viele erscheint: Wohnungslosigkeit kann jede_n treffen. Angesichts der steigenden Mietpreise in den Städten, einer Politik des Sozialabbaus und einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung könnte sich das Problem weiter verschärfen.
Sandra ist es ein Anliegen, ihre Geschichte bei den Supertramps zu teilen. Ihre hat ein Happy End: Durch die Initiative und ihren Auftritt in einem Theaterstück meldete sich eine Frau bei Sandra, die das Unmögliche möglich machte und ihr eine Wohnung vermittelte. Doch Sandra blieb auch danach bei Supertramps. Sie möchte weiterhin davon erzählen, wie schnell man in eine solche Situation kommen kann und wie wichtig es ist, sich Unterstützung zu holen.