Eugenija Geiers Lebensweg bringt sie von einem süd-sibirischen Dorf zu den Zeugen Jehovas im Schwabenland. Heute kämpft die Aktivistin gegen Trans- und Behindertenfeindlichkeit. Von Julia Belzig
Ein knalliges Kanariengelb hat das Pulloverkleid, das Eugenija Geier sich zum Fototermin ausgesucht hat. Fröhlich lächelt sie in die Kamera, zwischendurch hilft ihr eine Pflegeassistentin beim Ausziehen ihrer plüschigen rosa Jacke. Für die meisten Menschen ist es eine Selbstverständlichkeit, sich selbst an- und auszuziehen. Für Eugenija nur einer von vielen Bereichen, in denen sie nicht über die Selbstständigkeit verfügt, die sie gerne hätte.
Alltäglich sind die physischen Barrieren, die für das ungeübte Auge unsichtbar sind: Da ist die schwer bewegbare Stahltür, die nach ihrem Einzug in den vermeintlich barrierefreien Häuserkomplex eingebaut wurde. Der unbenutzbare Aufzug bei der U-Bahn, der lange nicht repariert wurde. Und der teure Rollstuhl, an dem häufig etwas kaputt ist.
Eine ständige Herausforderung in ihrem Alltag ist die große Abhängigkeit von anderen Menschen. Zweimal täglich kommt jemand aus einem Pflegeteam, um bei ihr zu putzen, zu kochen und ihr beim Anziehen zu helfen. So ergeben sich Abhängigkeitsbeziehungen, in denen sich Probleme durch ihre Behinderung und ihre Transidentität überlappen. Zum Beispiel, wenn sich ihre Assistenten weigern, sie zu rasieren. Warum, ist nicht klar. Vielleicht ist es ihnen zu intim, vermutet Sebastian, der mit Eugenija als Sozialpädagoge zusammenarbeitet.
WIE EINE ZWEITE PUBERTAT. Die Frage nach ihrer Geschlechtsidentität wurde nach Eugenijas Umzug nach Berlin vor sechs Jahren immer dringlicher. Sebastian erinnert sich noch gut an die ersten Gespräche. Angefangen hat alles mit einem langen Mantel. Schon lange vor ihrer Transition wollte Eugenija schöne Frauenkleidung anziehen. Oft fragte sie ihren Wegbegleiter Sebastian, ob das normal ist; zeigte sich unglücklich, dass sie sich so seltsam fühlt. Irgendwann traut sich die 43-Jährige, ihre Gedanken zu teilen: „Ich bin eine Frau, kein Mann.“
Und so beginnt ihre Transition, Eugenija geht zur Psychotherapie und bekommt Hormone. Die Vornamens- und Personenstandsänderung verläuft problemlos. Nachdem all das geschafft ist, beginnt der schöne Teil. Eine unglaublich aufregende Zeit in Eugenijas Leben, wie eine zweite Pubertät. Sie trifft ihre Freund*innen und geht viel aus. Der Berliner Club „Schwuzz“ wird ein wichtiger Ankerpunkt – ein Ort, um andere queere Menschen zu treffen. Man sieht ihr die Veränderung auch an: Statt graubraunen Tönen leuchten die neuen Klamotten von Eugenija in knalligen Farben. An ihrem Rollstuhl hängt immer eine Stofftasche in den Farben des Regenbogens.
Die Stimme von ihrem Talker ändert sie von einer männlichen zu einer weiblichen. Ein Talker ist eine elektronische Kommunikationshilfe, wie ein Tablet oder iPad, das über eine Kamera mit Eugenijas Augen verbunden ist. Diese bewegt sie über Symbole, Buchstaben und Zahlen, die dann vom Talker versprachlicht werden. Einige Wörter sind fest eingespeichert, wie das Symbol eines dunkelhaarigen Mannes mit Bart – es steht für Sebastian. Auch die Buchstaben „ZJ“ für Zeugen Jehovas – dazu später mehr.
Die Stimme spricht recht roboterhaft für Eugenija aus, was sie zu sagen hat. Es dauert einen Moment, bis aus den einzelnen Wörtern ein Satz entsteht. In einer Welt, in der alles immer schneller wird, erfordert es Nachsicht und Geduld. Doch die Leute haben nicht immer Zeit, Eugenija zuzuhören. Und auch sie selbst hat nicht immer Geduld mit dem Computer. Dazu kommt, dass die Technik viel Geld kostet. Bei Sonnenschein funktioniert die Augensteuerung nicht, außerdem hat Eugenija Angst, dass das Tablet bei Bordsteinen aus der Halterung bricht. Deshalb ist es draußen nicht mit dabei und kommt nur in den Innenräumen zum Einsatz.
SCHWIERIGER START INS LEBEN. Eugenijas Leben beginnt in Russland. Bei ihrer Geburt in einem südsibirischen Dorf führen Probleme mit der Nabelschnur zu einem Sauerstoffmangel. Eugenija kommt als vermeintliche Totgeburt zur Welt, 45 Minuten lang wird sie wiederbelebt. Teile ihres Gehirns erleiden dabei irreparable Schäden.
„Ich glaube, vielen ist es gar nicht klar, wie viel Menschen wie Eugenija aufholen müssen“ erklärt Sebastian. Denn es ist etwas ganz anderes, wenn die Behinderung die Folge einer Krankheit oder eines Unfalls ist, wenn man viele Dinge vorher konnte und ein anderes Leben geführt hat. Was bei neun von zehn Betroffenen der Fall ist. Menschen, die mit einer Behinderung geboren wurden, sind innerhalb der Community eine Minderheit. In Deutschland leben laut der Bundeszentrale für politische Bildung knapp acht Millionen Menschen, die schwerbehindert sind. Nur 3,3 Prozent von ihnen sind mit dieser Behinderung auf die Welt gekommen.
Über ihr Leben in Russland erzählt Eugenija nur wenig. Das Leben dort ist besonders hart mit einer schweren Behinderung. Im Winter ist es kalt, minus 45 Grad. Es ist kompliziert, aus dem Haus zu kommen, besonders wenn man nicht laufen kann. Und es gibt keine geeignete Schule für sie. Deshalb zieht die Familie, als sie vierzehn ist, aus Südsibirien ins – wie sie sagt – „Schwabenländle“. In Deutschland geht sie auf eine Schule für Menschen mit Behinderungen und findet viele Freund*innen, es geht ihr gut. Doch ihre Jugend ist holprig: Eugenija wohnt vorübergehend bei ihrer Tante, die Mitglied bei den Zeugen Jehovas ist. Bis zum Tod der Tante bleibt Eugenija mit ihr in dieser in Deutschland anerkannten Glaubensgemeinschaft, die rund 200.000 Mitglieder zählt. Sie alle unterwerfen sich strengen Vorschriften, auch vorehelicher Sex, Homo- und Transsexualität sind tabu. Es ist ein schwieriger Lebensabschnitt, geprägt von Verboten und vielen ungeklärten Fragen. Denn bei den Zeugen Jehovas wird das Thema Sexualität insgesamt unterdrückt, die Bedürfnisse der Menschen werden kontrolliert, Lust verteufelt. Eugenija erinnert sich an Situationen, in denen sie „sündigte“. Durch die strengen Regeln und die sehr autoritäre religiöse Lebensweise wird jede freie Willensentfaltung erschwert. So zumindest erklärt sich Wegbegleiter Sebastian die Unsicherheit Eugenijas. Die für sich erst herausfinden musste, was sie fühlen darf, und die es ungeheuer viel Kraft gekostet haben muss, einzufordern, sie selbst sein zu dürfen.
AUF DER BUHNE. Doch auch heute stößt sie immer wieder an Grenzen. Aber ihr Leben ist auch mit vielen schönen Dingen ausgefüllt. Zum einen ist da ihre Katze Maja, mit grauem Fell und gelben Augen. Das Tier bringt Leben in die Bude. Während unseres Gesprächs klatscht Eugenija immer wieder in die Hände und stößt einen hohen Schrei aus, sobald Maja auftaucht. Einmal die Woche fährt Eugenija zum Rollisport. Außerdem ist sie aktiv beim Bündnis „behindert und verrückt feiern – pride parade“, das einmal im Jahr eine Demonstration für Menschen mit Behinderung organisiert. Sie setzt sich für mehr Sichtbarkeit und Gleichberechtigung von Menschen ein, die trans und/oder behindert sind und macht auf Diskriminierungen aufmerksam. Beim letzten Mal, im Sommer 2023, hielt sie eine Rede vor Hunderten Teilnehmenden. Mit Sebastian hat sie an dem Beitrag gearbeitet, der Talker liest sie bei der Veranstaltung vor. Als Referentin informiert Eugenija auf Fachtagungen über Unterstützende Kommunikation über ihre Art, sich mit der Sprachassistenz auszudrücken und macht Führungen im Humboldtforum für andere schwerbehinderte Menschen.
Mit dem Umzug nach Berlin und der Transition ist Ruhe in Eugenijas Leben gekehrt. Zumindest einige große Fragen sind geklärt. Sie sucht nun mehr und mehr die Öffentlichkeit: Denn Eugenija will ihre Geschichte erzählen.
Julia Belzig ist freie Journalistin aus Berlin. Für dieses Porträt hat sie sich im letzten Jahr mehrmals mit Eugenija getroffen, um ihren Lebensalltag zu verstehen.