Ist PMS die Kapitalismuskritik des Körpers? Franzis Kabisch über Krämpfe und Leistungsdruck – und fehlende Forschung zum prämenstruellen Syndrom.
„Today I’m not feelin’ pretty / See I’m feeling quite ugly / Havin’ one of those days / When I can’t make up my mind”, singt Mary J. Blige 2001 in ihrem Song PMS. Treffender hat es nur Dolly Parton in PMS Blues auf den Punkt gebracht: „Nothing fits me when it hits me”. Beide Musikerinnen klagen über das prämenstruelle Syndrom – kurz: PMS –, drei Buchstaben, die sich menstruierende Menschen vor ihren Tagen wie eine Art Codewort, begleitet von einem verständnisvollen Nicken, zuraunen. Dennoch hat auch die Wissenschaft keine exakte Antwort auf die Frage: Was ist PMS eigentlich genau?
Fakten. Je nach Quelle sollen siebzig bis neunzig Prozent der menstruierenden Menschen körperliche Veränderungen bemerken in „den Tagen vor ihren Tagen“, auch Lutealphase genannt (nach dem lateinischen luteus – orangegelb, bezogen auf den Gelbkörper, zu dem sich die unbefruchtete Eizelle entwickelt). Bei zehn bis 12 (laut mancher Quellen sogar dreißig) Prozent der Personen sind die Veränderungen so stark, dass man von Beschwerden und damit von PMS sprechen kann, vor allem, wenn diese regelmäßig und über Jahre hinweg auftreten: etwa Schmerzen und Ziehen in den Brüsten, Rückenschmerzen, Müdigkeit und Erschöpfung, Bauchkrämpfe oder unreine Haut. Wenn die Beschwerden vor allem psychisch und von besonderer Schwere sind, zum Beispiel depressive Phasen, Angstzustände, extreme Reizbarkeit oder Stimmungsschwankungen, spricht man von PMDS, der prämenstruellen dysphorischen Störung. Laut Schätzungen sind drei bis acht Prozent der menstruierenden Personen von PMDS betroffen. Verlässliche Zahlen fehlen, da es nur wenig Forschung dazu gibt.
Unterforschung. „Further research is required.“ Bei vielen Studien, die sich in der Datenbank PubMed zu PMS oder PMDS finden lassen, ist schon im Abstract zu lesen, dass weitere Forschung vonnöten ist. In den letzten Jahren wurden zu „PMDD“ (der englischen Abkürzung für PMDS) durchschnittlich fünfzig und zu „premenstrual syndrome“ durchschnittlich hundert internationale Studien verzeichnet. Zum Vergleich: Für das Schlagwort „erectile dysfunction“ gibt es um die 1.100 und für „prostate“ konstant um die 10.000 Studien pro Jahr. Auch wenn das sehr spezifische PMS als Syndrom nicht direkt mit der Prostata als Organ vergleichbar ist, zeigen diese Zahlen dennoch einen Trend in der internationalen medizinischen Forschung, nämlich die misogyne Vernachlässigung und Unterforschung Frauen1 betreffender Leiden. Wer sich mit starken Beschwerden an die*den Gynäkolog*in wendet, erhält nicht selten die unbefriedigende Antwort, dass diese zum Zyklus eben dazugehören würden oder nur ein „hormonelles Ungleichgewicht“ dahinterstecke. Die vage Faktenlage bestärkt zudem sexistische Zuschreibungen, nach denen Frauen emotional unstabil, von ihren Hormonen kontrolliert oder um die Zeit ihrer Periode herum nicht ansprechbar seien. In feministischer DIY-Manier findet Wissensproduktion und Austausch somit vorranging in selbstorganisierten Gruppen oder in sozialen Medien statt.
Definition als Krankheit. Im Laufe der 1980er-Jahre wurde PMS im DSM, dem „diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen“ als Syndrom bzw. Störung offiziell eingetragen – ein wichtiger Schritt für viele, die unter prämenstruellen Beschwerden leiden. Auch das in Europa gebräuchlichere ICD-Handbuch („Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“), das den Fokus nicht nur auf psychische Störungen, sondern auf Krankheiten generell legt, verzeichnet „prämenstruelle Beschwerden“ in seiner zehnten Auflage – jedoch nicht unter den „psychischen Verhaltensstörungen“, sondern unter „Krankheiten des Urogenitalsystems“. Unabhängig von der Kategorie kann diese Anerkennung für Menschen mit hohem Leidensdruck nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Erlösung bieten. Denn abseits der prämenstruellen Beschwerden wird die notwendige Rechtfertigung gegenüber dem Umfeld als besonders belastend erlebt. Wenn Familie oder Freund*innen die Beschwerden nicht ernst nehmen, kann dies sogar zu einer Symptomverstärkung führen, wie Jane M. Ussher und Janette Perz in einer Studie der Western Sydney University herausgefunden haben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Shikha Dixit und Sucharita Maji, Forscherinnen am Indian Institute of Technology Kanpur: Psychische und körperliche Erkrankungen seien bei Frauen „konstant mit einem sich-selbst-zum-Schweigen-bringenden Verhalten in Verbindung zu bringen.“ Dies sei auch bei PMDS der Fall. Nicht wenige Menschen, die unter starken Stimmungsschwankungen vor der Periode leiden, suchen die Gründe bei sich selbst und zweifeln dabei ihre Wahrnehmung sowie ihre Urteilsfähigkeit an.
Kritik an Pathologisierung. Mit der Aufnahme von PM(D)S in den „Leitfaden psychischer Störungen“ ging aber auch Kritik von feministischer Seite einher. Wissenschaftler*innen bezweifelten, dass es PMS als Krankheit wirklich gebe – nicht, weil sie menstruierenden Menschen ihre Erfahrungen absprechen wollten, sondern weil sie darin eine wiederholte Pathologisierung des weiblichen Körpers sahen. Besonders laut wurde diese Kritik in den USA, als die Aufnahme von PMS in den Leitfaden die Zulassung eines neuen Antidepressivums ermöglichte. Kritiker*innen sahen darin vor allem die Interessen der Pharmaindustrie bestätigt, die eine neue Gruppe an Patient*innen brauchte, statt PMS als gesamtgesellschaftliches Problem und Symptom einer unerbittlichen Leistungsgesellschaft zu identifizieren. Aus dieser Perspektive lässt sich die Berichterstattung über PMS ganz anders interpretieren. Die meisten Artikel in Fachzeitschriften oder Tageszeitungen fokussieren nämlich ausschließlich auf die Rolle der Frau als Mutter und Arbeiterin. Oft ist von „Ausnahmezuständen“ die Rede, die den familiären Frieden stören oder die Leistungsfähigkeit der Frau im Beruf enorm einschränken. So schreibt die Ärztin Anke Rohde auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe, dass die Antidepressivum-Medikation abgesetzt werden könne, wenn sich „die familiäre Situation stabilisiert hat.“ Immer wieder steht in der Auseinandersetzung mit PM(D)S der „Ausfall“ der Frau selbst im Fokus. Nur selten geht es dabei um eine Systemkritik, die die Doppel-Belastungen vieler Betroffenen zwischen Beruf, Familie, emotionaler Arbeit, Patriarchat und anderen Diskriminierungen anerkennt. Wenn all diese Belastungen konstant auf den Körper einwirken, verwundert es kaum, dass eine Hormonveränderung vor der Periode vieles zum Einstürzen bringen kann. Eine ähnliche systemkritische Haltung nahm auch die Forscherin Sarah Romans ein, als sie eine Gruppe kanadischer Frauen für eine Studie sechs Monate lang Tagebuch über deren Stimmungsschwankungen führen ließ. Herauskam, dass nicht so sehr der menstruale Zyklus, sondern vielmehr andere Faktoren die Stimmungen beeinflussten: soziale Unterstützung, die eigene Stresswahrnehmung und der sonstige Gesundheitszustand.
Symptome. Ob Erkrankung oder nicht: Mit all den unterschiedlichen Symptomen, die PMS mit sich bringt und die mit einer einzelnen Tablette nicht gelöst werden können, ließe sich PMS fast selbst als ein Symptom beschreiben – als Symptom einer kapitalistischen und ableistischen Gesellschaft. In dieser scheint es unmöglich, auf die eigenen Bedürfnisse jederzeit eingehen zu können, vor allem in einer Zyklusphase, in der die Empfindlichkeit höher und die Eindrücke stärker sind. Aber genau das wäre für menstruierende Menschen oft wünschenswert: eine zyklische Lebensweise, in der es immer wieder auf und ab, vor und zurück geht, statt einer linearen Fortschrittsgesellschaft.
[1] Obwohl es ganz unterschiedliche Personen gibt, die menstruieren, wird in geschlechtsbinären Forschungen nur von „Frauen“ gesprochen.
Franzis Kabisch bedankt sich bei ihrer Freundin Eva Tepest für diverse PMS-Verweise und den regen geführten Austausch darüber im Alltag und in Ausnahmezuständen.