Welche Kämpfe und Konflikte haben die queere Szene in den letzten Jahrzehnten geprägt? Wer hat wem welche Fehler vorgeworfen? Lea Susemichel im Gespräch mit Aktivistin Marty Huber über ungute Spiralen und den langen Schatten essentialistischen Denkens.
an.schläge: Die Türkis Rosa Lila Villa in Wien, in der du seit 1996 aktiv bist und die gerade 40-jähriges Bestehen gefeiert hat, eignet sich als konkreter Ort sehr gut, um an ihr exemplarisch etwas über Kämpfe innerhalb einer Bewegung zu erfahren. Welche großen Konflikte gab es in den letzten Jahrzehnten? Und wer hat wem dabei welche Fehler vorgeworfen?
Marty Huber: Ein zentraler Konflikt aus feministischer Perspektive war zu Beginn, dass die Villa-Lesben mit Schwulen statt mit feministischen Heteras zusammengearbeitet haben. Doch am Anfang stand einfach der Wunsch, mit der Villa eine Art „Liebesunordnung“ zu praktizieren. Die Villa sollte ein sichtbares Statement sein: Wir Lesben und Schwule sind da und wir haben ein großes pinkes Haus! Gleichzeitig gab es ständig homofeindliche Angriffe, u .a. von kirchlicher Seite, das alles hat eine Generation geprägt, die sich oft auch physisch wehren musste.
Wie geht man vor diesem Hintergrund nun mit feministischer Kritik an sexualisierter Gewalt um, die es in der Szene gab. Diese Debatte über sexuelle Ausbeutung in der Community ist extrem hochgegangen. Das ist schwer zu bearbeiten und öffentlich auszutragen bei einer Gruppe, die durch unterschiedliche Schutzalter-Paragrafen diskriminiert ist.
Wer konnte bestimmte Dinge überhaupt ansprechen, ohne völlig in die Luft gejagt zu werden von einem sehr feindlichen Außen.
Das ist ja bis heute so. In Deutschland gibt es die Auseinandersetzung um Birgit Bosold vom Schwulen Museum in Berlin, die Missbrauchsfälle aufarbeiten will und dabei mit viel Widerstand konfrontiert ist, weil einige Schwule dieser Generation die Aufarbeitung als Angriff und Neuauflage des homofeindlichen „Kinderschänder“-Vorwurfs erleben.
Ja, die Angst vor dem Thema ist verständlicherweise bis heute groß. Von schwuler Seite wurde damals dagegengehalten, dass alle Lesben missbrauchsbetroffen und überhaupt nur deshalb lesbisch wären, weshalb sie jetzt überall Missbrauch wittern würden. Es ist bis heute schwierig, gerade in der Prävention. Dabei geht es nicht nur um die Ausnutzung von Altersunterschieden, sondern grundsätzlich um die Frage, wie ich meinen Körper schützen kann, wenn dieser Gewalt erfahren musste. Wie ich mit der Scham und dem Stigma umgehe, die damit einhergehen, und dem Ideal von sexueller Offenheit, das in der Szene existiert. Aber ich kann nicht zu einer Sexualität finden, die auf Konsens und Bewusstsein basiert, wenn ich mir diese Dinge nicht anschaue.
Du hast vorhin schon angesprochen, dass es ein Kampf an zwei Fronten ist, weil das feindliche Außen immer mitbedacht werden muss, das oft ja nur darauf wartet, dass man Fehler eingesteht und sich verletzlich zeigt.
Ja, immer gab es noch die Angriffe von außen parallel zu allen Konflikten, die es innerhalb abzuarbeiten gab. Die Herausforderung ist also: Wie kann man gleichzeitig hart genug sein und weich genug bleiben für diese Aufgaben. Dieser Zweifrontenkampf hat oft zu Stellungskriegen und immer wieder auch zu, aus heutiger Sicht, absurden Diskussionen geführt. 1997 gab es zum Beispiel ein Projekt zu Gewalt in lesbischen Beziehungen und es wurde kritisiert, dass man so ein Thema öffentlich behandelt.
Du sprichst von der Villa als „Konfliktzone“, die eben kein Safe Space sein kann, und du sprichst dich dagegen aus, aus einem falschen Harmoniebedürfnis Dissens zu nivellieren. Inwiefern sind Konflikte wichtig?
Die Frage möchte ich nutzen, um zunächst allen Queers of Color zu danken, die sich an mir abgearbeitet haben!
Alle Kämpfe, die viele Generationen in den letzten vierzig Jahren in der Villa führen mussten, haben viel Herzblut, Ressourcen und, was ich sehr bedauere, auch Freund*innenschaften gekostet – aber sie waren nötig. Nicht zuletzt, um zu erkennen, dass es bei uns intersektionale Abhängigkeitsverhältnisse gibt, gerade bei Nicht-Österreicher*innen und queeren Menschen of Color. Alles, was wir aus feministischen Gesellschaftsanalysen kennen, all das gibt’s hier auch und muss angegangen werden. Wie können unterschiedliche Formen der Unterdrückung berücksichtigt werden – das ist letztlich der lange rote Faden, der sich durchzieht.
Da geht es ja nicht nur um inhaltliche Auseinandersetzungen, sondern auch um die konkrete Ressourcenverteilung zwischen unterschiedlichen Gruppen. Wie ist es zur Gründung der Queer Base gekommen?
Die Frage muss aus meiner Sicht immer sein: Welche Community braucht das Haus gerade am nötigsten. Im Moment sind das vor allem queere Geflüchtete, die oft in den Unterbringungen massiver Gewalt ausgesetzt sind. Angefangen hat es mit einer trans Frau aus der Türkei, die in Schubhaft war, und für die die Villa eine Notwohnung angemietet hat, als sie aus der Haft kam. Als 2015 die trans Frau Hande Öncü ermordet wurde, hat die Kombination aus Trauer und Wut über diese Tat die Dringlichkeit struktureller Veränderung deutlich gemacht. So gesehen hat die Queer Base mindestens zwei trans Mütter.
In jüngster Zeit wird im Rahmen der sogenannten „identitätspolitischen“ Debatten viel Kritik an einer vor allem auf Social Media tatsächlich oft sehr aggressiven Call-out-Kultur geäußert, bei der kein Fehler mehr verziehen wird. Ist diese Kritik berechtigt?
Ich glaube, dass viele von uns – trauma-informiert, also aufgrund eigener Traumata – oft in unguten Spiralen stecken. Da braucht es viel mehr Ehrlichkeit in der Auseinandersetzung. Wir müssen an einer Gesellschaft arbeiten, die feministisch ist für alle. Wie können wir Gewalt aushebeln, indem wir aus binärem Denken herauskommen. Das muss man gerade auch vielen Feministinnen sagen: Achtzig Prozent unserer cis-männlichen Klienten sind Opfer von sexualisierter Gewalt. Die Formel, wonach Frauen immer Opfer und Männer die Täter sind, stimmt einfach nicht. Die Einteilung ist nicht hilfreich, obwohl sie oft treffend ist. Deshalb verstehe ich auch den Einwand und den Schmerz von cis Frauen, die auf Femizide verweisen und sagen: „Man bringt uns um“. Aber auch trans Frauen werden umgebracht. Wie kommen wir also aus einer essentialistischen, biologistischen Sicht heraus? Darin besteht für mich die gegenwärtige Herausforderung. Anzuerkennen, dass auch Männer und Jungs Opfer des Patriarchats sind. Ich kann also einem Jungen nicht einfach nur sagen: „Du darfst nicht vergewaltigen“, sondern muss ihm auch vermitteln: „Du bist es wert, dass du auf deine Grenzen schaust.“
Mir liegt nichts ferner, als Menschen aus der Verantwortung dafür zu nehmen, dass sie sich in völlig blödsinnige Positionen verrannt haben. Aber manche transfeindlichen Feministinnen scheinen sich erst durch die Debatten derart radikalisiert zu haben. Wie ließe sich diese ungute Dynamik durchbrechen, dass Anklagen meist defensive Haltungen nach sich ziehen, was schlussendlich alles noch viel schlimmer macht?
Das ist schwierig. Wenn es aus den eigenen Reihen kommt, ist die Enttäuschung einfach ungleich größer. In dieser Debatte werden Diskurse wiederholt, die ich in meiner Jugend schon gehört habe, nach der AIDS-Panik und der Gay-Marriage-Panik gibt es jetzt eben die Trans-Panik, das ist ein extrem anti-emanzipatorisches Paket. Und statt zu sehen, dass wir eigentlich auf derselben Seite stehen, heißt es: Wegen dir darf ich jetzt nicht mehr „Frau“ sagen. Es müsste eben wirklich die Bereitschaft geben, anderen zuzuhören und sich Fehler einzugestehen, die ich bei besagten Personen nicht sehe. Einzuräumen, dass man gewisse Dinge nicht wusste oder eine völlig unseriöse Studie zitiert hat.
Trotzdem müssen wir uns natürlich mit Dynamiken beschäftigen, die ein Verhalten bestärken, und damit, wie Leute aus diesen Dynamiken wieder herauskommen.
Wenn wir die Theorie von Restorative Justice berücksichtigen und den Grundsatz beherzigen, dass es darum geht, die Tat und nicht die Täter:innen zu verurteilen, wäre es vielleicht auch hilfreich, sich mehr mit der Unterscheidung von „doing wrong“ und „being wrong“ auseinanderzusetzen. Denn dass viele Menschen Kritik offenbar so schwer aushalten bzw. Fehler annehmen können, hat viel damit zu tun, dass es bei dieser Kritik eben nicht um Fehlverhalten, sondern um die Kollektivschuld und Verantwortung geht, die ich aufgrund meiner eigenen Identität – weil ich weiß bin, weil ich Deutsche bin – unweigerlich habe und mich entsprechend verhalten muss. Und damit trifft mich Kritik eben auch im Innersten.
Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Ich bin erst am Anfang meiner Auseinandersetzung mit Konzepten von Restorative Justice und „We will not cancel us“, aber da müssen wir wirklich in eine andere Grammatik kommen, sonst sind das Selbstläufer, die sich immer wieder selbst nähren. Bei der Arbeit für Queer Base wird mir immer wieder klar: Wie können wir trotz allem einen Raum offenhalten, der nur im äußersten Notfall mit Ausschluss reagiert und ansonsten ein Ort des organisierten Verlernens von Unterdrückung bleiben? Letztlich bleibt die Villa ein Ort, wo das Gemäuer flüstert: Träumt laut und organisiert euch! •
Lea Susemichel ist seit 2006 eine der beiden leitenden Redakteurinnen der an.schläge und hat seither sehr viele Fehler gemacht.