Wenn Mütter für einen Arbeitsplatz ins Ausland gehen und kleine Kinder zurücklassen, erfahren sie nicht nur Betroffenheit, sondern sind oft auch Vorwürfen ausgesetzt. Den Realitäten transnationaler Familien wird das freilich nicht gerecht. Von CORNELIA GROBNER
„Ich erzähle fast niemandem, dass ich Mutter bin. Zu viele Fragen, zu viel Schmerz.“ Die 29-jährige May P. sinkt ins Sofa und streckt die Beine aus. Sie wirkt nicht müde, obwohl sie gerade vier Stunden geputzt hat. Die Wohnung ist einer ihrer vielen Arbeitsplätze in Wien, das sie ihre zweite Heimat nennt. Eine Heimat, in der sie illegalisiert leben muss. Vor zehn Jahren hat May die Philippinen und ihre damals acht Monate alte Tochter verlassen. „Meine Geschichte ist anders“, betont sie. „Ich schicke Geld heim, aber ich bin nicht deswegen weg. Ich musste meine Vergangenheit hinter mir lassen, um zu überleben.“ Ihre Vergangenheit – damit meint sie ihre Vergewaltigung und das Gesicht ihrer Tochter, das sie daran erinnert. Mays Migrationsbiografie ist Normalität in einem Land, das nach Schätzungen lokaler Behörden jeden Tag über 4.000 Menschen verlassen, um anderswo ein Auskommen zu finden. 72 Prozent von ihnen sind Frauen.
Schwer wie beim ersten Mal. Auch in der südlichen Slowakei ist die Arbeitsmigration von Frauen Normalität. So war es für die Krankenschwester Katarína N. naheliegend, als 24-Stunden-Pflegerin nach Österreich zu gehen, als ihr Mann arbeitslos wurde. Die zweifache Mutter trat nicht nur in die Fußstapfen ihrer Mutter, sondern auch in die von mehr als einem Dutzend anderer Frauen ihres Heimatdorfes. „Ich weiß, wie sich meine Kleinen fühlen, weil ich mich erinnere, wie es für mich war, als meine Mutter fortging“, meint die 29-Jährige mit Wehmut in der Stimme. Bei jedem Abschied zerrt die Zweijährige an der Mutter und weint bitterlich. Die Fünfjährige wiederholt die immer gleiche Frage: „Warum gehst du weg, Mama? Warum?“ Für das Geld, sagt sie. Für dein besseres Leben, denkt sie.
Den Söhnen der Slowakin Alžbeta B. ist dieser Zusammenhang klarer. Sie sind 15 und 19 Jahre alt. Ihre Mutter, die seit knapp sechs Jahren ebenfalls als Pflegerin in Österreich arbeitet, nimmt die Mühen auf sich, damit sich die Familie ihre Ausbildung leisten kann. Zwei Wochen hier – zwei Wochen dort: Alžbetas Leben bestimmt der vom Gesetz geschaffene Arbeitsrhythmus. „Jedes Mal, wenn der Abschied näher kommt, ist es so schwer wie beim ersten Mal“, so Alžbeta. Trotz Unterstützung durch Schwägerin und Mutter ist der Haushalt die Angelegenheit der 38-Jährigen geblieben. In den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr beseitigt sie die Unordnung, dann ist sie mit Vorkochen und Einfrieren beschäftigt. „Freizeit habe ich nur in Österreich“, lacht sie. Dann liest sie und hört Musik. Damit vertreibt sie auch die Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die sie jeden Abend vor dem Computerbildschirm mit Skype zu stillen versucht. „Ich will alles wissen. Was die Kinder gelernt, gegessen, unternommen haben. Solange wir reden, ist alles gut.“
Emanzipatorisches Potenzial. So herzzerreißend solche Beispiele und Berichte auch sind, der öffentliche Diskurs um Arbeitsmigration und Mutterschaft sollte nicht in der Betroffenheitsspirale stecken bleiben. Das erschafft ein Bild von unterdrückten, hilflosen Migrantinnen und vernachlässigten Kindern. Dabei können die Auswanderung und das Geldverdienen durchaus emanzipatorisches Potenzial haben – für beide Seiten. Doch die Interpretation von Frauenmigration und ihren Konsequenzen wird stark von internalisierten Vorstellungen der Aufgaben von Müttern und Vätern getragen. Oft wird die Abwesenheit von Vätern als natürlich wahrgenommen, während die Migration der Mütter dazu führt, transnationale Familienkonstellationen zu skandalisieren. Unterstützungsprojekte seitens der EU oder der davon profitierenden Gastländer sind dennoch rar.
UNICEF-Berichte zeigen, dass sich Müttermigration positiv auf die dadurch finanzierbare Bildung der Kinder auswirkt, besonders auf jene der Töchter – solange es andere emotionale Bezugspersonen gibt und sich die Verantwortung der Kinder für den Haushalt in Grenzen hält. Diese Bildungsvorteile können auch dadurch entstehen, dass die Kinder später ins Arbeitsland nachgeholt werden. „Nur wenn meine Kinder in Deutschland studieren, bekommen sie einen Abschluss, mit dem sie überall auf der Welt Chancen haben“, befindet etwa Simona S. Die 38-jährige Rumänin hat immer wieder monatelang getrennt von ihrer Familie in München gearbeitet. Das erste Mal vor 15 Jahren. Deutschland, das war ihr schnell klar, sollte die neue Heimat für sie alle werden. Vor zwei Jahren erfüllte sich dieser Traum mit einer Anstellung als Kita-Pädagogin. Die nachgeholte Familie kämpft noch mit dem neuen Land: Fremdeln, Sprachbarrieren, Sehnsucht nach der siebenbürgischen Heimatstadt. Aber Simona will die Chance nicht aufgeben: „Was sollen wir in Rumänien? Unsere Stadt ist tot. Alle sind weg.“
Verändertes Mutterbild. Arbeitsmigration von Müttern eröffnet auch neue Perspektiven auf Mutterschaft: Mütterlichkeit ist nicht mehr länger ausschließlich durch Nähe bestimmt, sondern auch über finanzielle Unterstützung definiert, was bislang die Rolle des Vaters kennzeichnete. Öffentlichkeit und Politik haben jedoch selten die tatsächlichen Arrangements transnationaler Familien im Blick. Die Sozialwissenschaftlerin Bettina Haidinger, die zur Situation von ukrainischen Haushaltsarbeiterinnen in Wien geforscht hat (1), bestätigt das. In dem osteuropäischen Land nehme man sich des Phänomens der abwesenden Eltern drastisch an: In Zeitungen ist die Rede von „Waisenkindern“ lebender Eltern und die Frauen werden als Mütter, die ihre Kinder im Stich lassen, diffamiert. Paradoxerweise existiert parallel auch ein gegensätzliches Narrativ, das diese Mütter zu Heldinnen und Märtyrerinnen der Nation stilisiert.
Eine ähnliche öffentliche Diskussion stellen die beiden Geschlechterforscherinnen Helma Lutz und Ewa Palenga-Möllenbeck in Polen fest, wo durch die Migrationsrate bereits jedes fünfte Kind nicht von seinen Eltern betreut wird. Besonders skandalisiert wird auch hier die Abwesenheit von Müttern. Medienberichte machen die Kinder zu „Euro-Waisen“, zu vernachlässigten Opfern ihrer Eltern, die im Ausland Geld scheffeln. Wie in der Ukraine wird in Polen die Care-Arbeit meist zwischen weiblichen Personen umverteilt – globale Betreuungsketten entstehen.
Technisierte Beziehung. Global Parenting zeichnet sich wie romantische Fernbeziehungen dadurch aus, dass die Technik die wesentliche Kommunikation trägt. Mit den bekannten Defiziten. Keine Berührungen, kein direkter Augenkontakt, keine physische Nähe. „Die Gespräche mit den Müttern in meiner Studie waren besonders berührend, wenn sie über die Beziehung zu ihren Kindern gesprochen haben“, erinnert sich Bettina Haidinger. „Ihre Zerrissenheit war sehr spürbar. Die Frauen legitimierten ihr Hier-Sein nicht nur mit dem Geld, sondern auch mit dem Leiden als Mutter – mit der emotionalen Mehrarbeit.“
Kinder und Jugendliche können die Gründe für die Migration der Mütter meist rational nachvollziehen, sie verstehen die Argumente. Die Sehnsucht nach dem Elternteil, das zeigen die UNICEF-Studien, ist dennoch eine große Last für sie. Im Laufe der Zeit gewöhnen sich viele an die Abwesenheit der Mutter. Sie suchen sich andere Bezugspersonen – was wiederum für Erleichterung, aber auch für Enttäuschung und Traurigkeit bei den Müttern sorgen kann. Wie normalisiert die mütterliche Migration im Alltag ist, hängt von der Verbreitung des Phänomens im Umfeld sowie von Stigmatisierung oder Anerkennung ab.
Pragmatische Migrantinnen. Die Historikerin Sabine Liebig macht in ihrer Forschung die lange ausgeklammerte Geschichte „weiblicher“ Migration sichtbar. „Die emigrierten Frauen im 19. und 20. Jahrhundert haben oft schneller als Männer Arbeit gefunden, weil sie aus Pragmatismus eher bereit waren, Arbeit unter ihrem Ausbildungsniveau anzunehmen“, konstatiert sie. „Die Notwendigkeit, ihre Familien zu ernähren, empfanden Frauen häufig dringlicher. Das ist auch heute noch so.“ Nicht zuletzt gelten Mütter als die verantwortungsvolleren Migrantinnen: Sie schicken einen höheren Anteil vom Verdienst nach Hause, bleiben loyaler als Väter und halten regelmäßiger Kontakt zu den Kindern.
Auch wenn es ihr schwerfällt, telefoniert die Philippinin May einmal im Monat mit ihrer Mutter, manchmal können sie sogar skypen: „Meine Mutter weint die ganze Zeit und mein Herz bricht.“ Ihre Tochter weiß erst seit zwei Jahren von May. Vorsichtig tasten sich die beiden über die Webcam aneinander heran: „Meine Tochter ist sehr schüchtern und beobachtet mich meistens nur. Ich liebe sie. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, ihr auch die Wahrheit über ihren Vater zu erzählen. Die Wahrheit darüber, warum ich weggehen musste.“
Cornelia Grobner lebt und arbeitet als freie Journalistin und Texterin in Wien.
(1) Haidinger, Bettina: Hausfrau für zwei Länder sein. Zur Reproduktion des transnationalen Haushalts. Verlag Westfälisches Dampfboot 2013.