Feminismus braucht Psychiatriekritik. Dringend. Dabei gibt es drei wichtige Elemente: Institutionskritik, Diagnosenkritik und eine umfassende Kritik an Psychologisierung. Von PEET THESING
Die Kritik an der Institution Psychiatrie ähnelt kritischen Auseinandersetzungen mit Gefängnis: Sie richtet sich gegen geschlossene Stationen, Aushebelung von Grundrechten, die Verletzung des Körpers und den Versuch, das Innere zu disziplinieren und zu verändern. Es geht ihr um den Kampf um die Einhaltung zumindest der vorhandenen Rechte, die oft gebrochen werden. Auch dieser Einsatz gegen Zwangsbehandlungen und -maßnahmen fällt unter die Forderung „My body, my choice“, gerade weil Menschen in der Psychiatrie so oft Willen und Willkür von Psychiater_innen ausgeliefert werden.
Grenzen und Macht. Außerdem müssen psychiatrische Diagnosen als eine Grenzziehung zwischen gesund und krank infrage gestellt werden. Feministische Psychiatriekritik muss immer wieder kritisch nachfragen, warum ein bestimmtes Verhalten, Denken, Fühlen und Wahrnehmen als krank gilt, wie diese Grenzen historisch gezogen wurden und was das mit Herrschaftsverhältnissen zu tun hat. Diagnostik hat viel mit Geschlecht zu tun. Männern werden eher „Störungen des Sozialverhaltens“ gegeben, Frauen eher Störungen der Emotionen zugeschrieben, wie „Angststörung“ und „Depressionen“. Menschen, deren Geschlecht nicht in die normative Zweigeschlechterordnung passt, werden pathologisiert, zum Beispiel mit Diagnosen wie „Gender Dysphoria“. Auch die Pathologisierung von trans* Personen lässt sich nicht von anderen psychiatrischen Diagnosen trennen – denn alle setzen eine Norm voraus, was in dieser Welt eine „gesunde“ Psyche, Geschlechtsidentität, Lebensweise ist. Abweichungen werden sanktioniert, anstatt sie zu zelebrieren und eigene Denk-, Verhaltens- und Empfindungshorizonte zu erweitern.
Das strukturelle Problem bekämpfen. Feministische Psychiatriekritik bedeutet auch, grundlegende gesellschaftliche Kritik zu üben. Ganz vieles wird inzwischen als Angelegenheit innerer Motivationen behandelt und nicht als Resultat von Machtstrukturen. Probleme werden im Innersten, in der Psyche, gesucht, und es wird versucht, sie dort zu lösen, statt die eigentlichen Ursachen zu beseitigen. So gibt es z. B. den Stressresilienzkurs, der von der Krankenkasse bezuschusst wird, damit eine_r auf der Arbeit nicht zusammenbricht. Gewerkschaftliches Engagement und damit eine Veränderung der Arbeitsbedingungen hingegen wird als Lösung auch für individuelles Leiden nicht in Betracht gezogen. Das ist in jedem Einzelfall sicherlich verständlich, in der politischen Konsequenz jedoch sorgt es für mehr Vereinzelung. Gerade Feminismus braucht dringend weniger Vereinzelung und wieder mehr Verständnis dafür, wie solidarisches Handeln funktioniert.
Das zeigt sich auch am Umgang mit sexualisierter Gewalt. Beratungsstellen professionalisieren sich immer weiter, und die „Trauma-Kompetenz“ steigt. Das Wissen um die gesellschaftliche Bedingtheit von Gewalt gegen Frauen sinkt jedoch. Auch hier gilt wieder: Im Einzelfall ist die Expertise, welche Folgen Gewalt haben kann, hilfreich und wichtig, um erfolgreiche Unterstützungsarbeit zu bieten. Doch am Grundproblem wird dadurch nichts verändert. Stattdessen werden die Solidarisierungserfahrungen von Frauen (und auch Menschen anderer Geschlechter), die (sexualisierte) Gewalt erlebt haben, im Zuge der Psychologisierung immer seltener und damit nimmt auch die Vereinzelung zu. Die Möglichkeit, mit anderen Betroffenen über Gewalt in derselben Normalität sprechen zu können, wie sie auch den Alltag prägt, mit ihnen Wut und Schmerz zu teilen, schwindet, wenn nur mit professionalisierten Expert_innen gesprochen werden soll. Und damit verschwindet auch die Chance auf kollektive Veränderung.
All das sind wesentliche Elemente von feministischer Psychiatriekritik. Denn ein Feminismus, der das Spiel mitspielt, in krank und gesund zu trennen und Kämpfe immer wieder zu individualisieren, hat wenig Potenzial, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Deshalb: Feministische Revolution statt Burn-Out-Prävention!
Peet Thesing ist Kulturwissenschaftlerin, kürzlich erschien ihr Buch über feministische Psychiatriekritik im Unrast Verlag.
Peet Thesing: Feministische Psychiatriekritik
Unrast 2017, 7,80 Euro
1 Kommentar zu „Feministische Revolution statt Burn-Out-Prävention“
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